Flüchtlingskrise Bahnhof München — Epizentrum der Flucht
München · Der Münchner Bahnhof ist zum europaweiten Flüchtlings-Einreiseort geworden. Nun müssen die anderen Bundesländer nachziehen.
Blitzschnell sortiert Anneliese Borgmeyer die Kleidungsstücke, die auf den 20 großen Wagen liegen, mit denen normalerweise Reisegepäck transportiert wird. T-Shirts und Hosen, Pullis und Schals. Jacken, Handtücher. Alles Spenden für Flüchtlinge. "Jeder wird gebraucht, wenn er helfen kann", sagt die adrette ältere Dame, die am Münchner Hauptbahnhof ehrenamtlich arbeitet. München ist in den vergangenen neun Tagen zum Epizentrum des Flüchtlingsdramas geworden. Ein Drama, das München, Deutschland, ja die ganze Welt umtreibt. 71 Jahre ist sie alt und sagt: "Ich bin noch fit."
Hunderte Freiwillige sind täglich am Münchner Hauptbahnhof für die Flüchtlinge im Einsatz. Die deutsche Hilfsbereitschaft und "Willkommenskultur" haben es bis auf die Titelseite der "New York Times" geschafft. Doch München ist nach diesen neun Tagen "am Limit", sagt Christoph Hillenbrand, Präsident des Regierungsbezirks Oberbayern. Nachdem ein Sprengstoff-Spürhund gestern Abend in der Nähe des Infopoints angeschlagen hatte, wurde der gesamte Hauptbahnhof abgesperrt und evakuiert. "Das hat nichts mit den Flüchtlingen zu tun", betonte ein Polizeisprecher. Der Bahnverkehr war erheblich gestört. Hunderte Reisende mussten die Schalterhalle verlassen.
Seit vergangenem Samstag, als die Flüchtlinge erstmals in Scharen aus den Zügen aus Budapest und Österreich quollen, besuchen Hillenbrand und der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) täglich mehrmals den Bahnhof. OB Reiter will ein "München mit Herz", jeder soll ein Bett bekommen, medizinisch durchgecheckt werden, soll Essen und Trinken erhalten. Regierungspräsident und OB sind zu einem eingespielten Team geworden. Hillenbrand gibt den sachlichen Beamten. Reiter trifft bisher sehr genau den Tonfall, die Gedanken- und Gefühlswelt des empathischen Münchens. "Ich kenne die Münchner ja schon ziemlich lange", sagt er. "Wir helfen und stehen zusammen, wenn es darauf ankommt."
Doch seit zwei Tagen ändert sich der Tonfall gegenüber den anderen Bundesländern. Hatte München als "Flüchtlings-Drehkreuz" anfangs noch um Hilfe, um unbürokratische Aufnahme der Flüchtlinge anderswo gebeten, so wird nun verzweifelt gerufen. Am Samstag sind 12.200 Neuankömmlinge gezählt worden. 1000 von ihnen konnten nach NRW gefahren werden, ganze 400 haben alle anderen Bundesländer insgesamt aufgenommen. Das sei "lächerlich", sagt Reiter wütend. Es herrscht große Enttäuschung, dass keiner zu helfen scheint, während München ins Chaos gleitet. Mal sind es 10.000 Flüchtlinge am Tag, mal 13.000, mal "nur" 7000.
In der Stadt gibt es kaum jemanden, den das Thema nicht umtreibt. Ein fast schon irrealer Stolz macht sich breit: "Wir" schaffen das, hier werden Menschen anständig behandelt. Am abgesperrten Teil des Bahnhofs, wo die Menschen aus den Zügen durchgeleitet werden, steht Rayan (19), der ehrenamtlich für die Organisation "Medizinisches Katastrophen-Hilfswerk" arbeitet. "In der Nacht sollte ein voller Zug weiterfahren", erzählt er. Doch er musste, so die Vorgabe, mit Windeln bestückt werden. "Wo sollen wir nachts um drei Windeln herbekommen?" Es ging - irgendwie.
Es gibt handfeste Indizien dafür, dass auch die Münchner Olympiahalle, wo sonst Take That und die Scorpions Konzerte geben, für Asylbewerber bereitgestellt werden soll. Eine offizielle Bestätigung gibt es dazu bislang noch nicht.
Wie geht es weiter in dieser Stadt, die zwischen Euphorie und Chaos schwankt? Der Crash könnte spätestens am kommenden Wochenende eintreten: Am Samstag wird das Oktoberfest eröffnet. Sechs Millionen Besucher werden erwartet. An den Bierzelten hängen dann Schilder: "Wegen Überfüllung geschlossen."