Debattenkultur und Flüchtlinge "Es geht ein Riss durch die Gesellschaft"

Düsseldorf · Nach den Übergriffen in Köln befindet sich Deutschland gefühlt im Ausnahmezustand. Im Netz formiert sich der Hass, auf den Straßen kommen Bürgerwehren zusammen. Was bedeutet das für Deutschland? Wir haben mit einem Rechtsextremismus-Forscher gesprochen.

 "Die Realität ist, dass sich die Gesellschaft seit einiger Zeit stärker polarisiert", sagt Prof. Samuel Salzborn.

"Die Realität ist, dass sich die Gesellschaft seit einiger Zeit stärker polarisiert", sagt Prof. Samuel Salzborn.

Foto: Marta Krajinovic

Samuel Salzborn ist Professor an der Georg-August-Universität Göttingen. Er befasst sich unter anderem mit Rechtsextremismus und ordnet die aktuellen Entwicklungen ein.

Herr Salzborn, Noch vor wenigen Wochen wurden Flüchtlinge klatschend an Bahnhöfen empfangen, jetzt nehmen die Anfeindungen zu. Sehen Sie ein Kippen der Stimmung nach der Silvesternacht in Köln?

Salzborn Wir haben keine Veränderung der Grundstimmung in der Bevölkerung, sondern eine andere Wahrnehmung für einzelne Facetten. Neben dem sehr offensiven Willkommenheißen, auch über die Medien, hat es im vergangenen Jahr bereits hunderte von Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte gegeben. Es gab reihenweise Übergriffe gegen Flüchtlinge, vor allem im Osten Deutschlands. Es gibt einen Unterschied wie medial und öffentlich diskutiert wird.

Hat das einen Einfluss auf die Willkommenskultur?

Salzborn Ich glaube nicht, dass das etwas an dem grundsätzlichen Verhalten der Menschen ändert, die sich für Flüchtlinge einsetzen. Es geht ein Riss durch die deutsche Gesellschaft, wie durch Gesellschaften generell. Man muss begreifen, dass es in unterschiedlichen Gesellschaften konträre Positionen gibt, die miteinander kollidieren. Das ist der Unterschied und nicht die Differenzierung zwischen den Menschen, die hier leben und denen, die neu hierherkommen.

Sehen Sie die Tendenz, dass die Mitte unserer Gesellschaft weiter nach rechts rückt?

Salzborn Die Tendenz, dass sich die Mitte generell auflöst, beobachten wir ja schon länger. Gleichzeitig versuchen sich viele politische Akteure in diese Mitte zu drängen. Niemand möchte an den Rändern lokalisiert sein. Die Realität ist aber, dass sich die Gesellschaft seit einiger Zeit stärker polarisiert.

Können rechtsextreme Parteien von dieser Entwicklung profitieren?

Salzborn Es gibt kurzfristige Effekte und es gibt ein langfristiges Potenzial, das rechte Parteien haben. Das Potenzial von NPD oder AfD ist ein relativ gleichbleibendes. Zumindest was den harten Kern angeht. Kurzfristige Stimmungen, die sich auch in Wahlentscheidungen niederschlagen können, sind schwer zu prognostizieren. Ich bin aber skeptisch, dass es da so wahnsinnig viel Bewegung geben wird.

Warum?

Salzborn Wenn wir uns einen Langzeitvergleich anschauen, was große Millieus angeht, sind die doch relativ stabil. Ich glaube nicht, dass NPD oder AfD dauerhaft daraus Kapital schlagen können. Sie können natürlich die Stimmung aufgreifen, aber ob sie dadurch wirklich so viel mehr Menschen mobilisieren können, die nicht ohnehin schon eine rechte Grundhaltung mitbringen, wage ich zu bezweifeln.

Wie verändert sich das Diskussionsklima?

Salzborn Es gibt Diskussionen in der Politik, in den Medien und in Kommentarspalten sozialer Netzwerke. Was diese drei Diskussionsebenen verbindet, ist die Beschleunigung - ein Begriff, den der Soziologe Hartmut Rosa vorgeschlagen hat. Wir erleben in öffentlichen Auseinandersetzungen zunehmend Beschleunigungsmomente. Man macht sich weniger Gedanken, man lässt sich weniger Zeit mal abzuwägen, Momente gegeneinander zu diskutieren, sondern will ganz schnell sofort irgendeine Form von Entscheidung. Das ist natürlich für eine demokratische Auseinandersetzung schädlich und hochproblematisch.

Inwiefern?

Salzborn Die Demokratie lebt von der Kontroverse und dem Streit, aber eben auch von der Kontroverse über Argumente und über inhaltliche Positionen und nicht über Vorurteile und Ressentiments. Diese Beschleunigung, auch über soziale Medien, ist ein Teil der Veränderung. Demokratischer Streit ist ein Streit über Argumente und über konkurrierende Interessen und gerade nicht über schnell dahingeplapperte unreflektierte Vorurteile und Ressentiments.

Wo führt diese Beschleunigung denn hin?

Salzborn Wenn wir uns engagieren, sind wir in jedem Moment in der Lage Einfluss auf den politischen Alltag zu nehmen. Ich glaube diese Beschleunigung von Diskussionsöffentlichkeit kann nicht unendlich weiter fortgesetzt werden. Viele Medien haben ja auch schon reagiert, in dem sie ihre Kommentarspalten moderieren oder manche Dinge gar nicht mehr kommentieren lassen. Ich glaube das ist ein guter Weg.

Warum?

Weil die persönliche und private Diskussion, die wir mit Freunden oder Nachbarn führen, wo man manchmal auch ein bisschen hitziger ist, was anderes ist als die Diskussion, die wir in Kommentarspalten mit unbekannten Menschen führen. Wenn wir die dann genauso hitzig führen, wird das Ganze schnell viel aggressiver. Trotz Emoticons nimmt man nicht wahr, was der andere tatsächlich für eine Position haben mag. Die öffentliche Debatte sollte von solchen Formen der Beschleunigung befreit werden. Hassgeladene Kommentare bringen in der Debatte nämlich nicht weiter. Emotionale Debatten sollten direkt geführt werden.

Wie können wir wieder mehr Sachlichkeit in die Debatten bringen?

Salzborn Was die Netiquette angeht, den Umgang mit anderen Menschen, steckt das Internet zumindest in Deutschland noch absolut in den Kinderschuhen. Die allermeisten Menschen haben noch überhaupt kein adäquates Verhalten gelernt, online miteinander umzugehen. Da gibt es einen erheblichen Nachhol- und Lernbedarf. Wenn man in einer demokratischen, zivilisierten Gesellschaft zu leben meint, kann man nicht tolerieren, dass Menschen sich beschimpfen, beleidigen und auf übelste Weise miteinander umgehen. Wir wollen ja vielleicht irgendwann mal zu einer Online-Debattenkultur gelangen, die einer Debattenkultur im persönlichen Umgang zumindest angenähert ist. Das Internet ist kein Müllabladeplatz für eigene Emotionen.

Ist die Diskussion um die Übergriffe der Silvesternacht ein Beispiel für eine neue, extreme Debattenkultur in Deutschland? Müssen wir uns an diesen Hass gewöhnen?

Salzborn In dieser Diskussion sollte man vor allem erstmal die Frage stellen: Wer sind eigentlich die Opfer? Über die scheint mittlerweile wenig gesprochen zu werden. Was sagt das über eine Gesellschaft aus, in der egal von welchen Seiten offensichtlich Frauen massenhaft zu Opfern an einem öffentlichen Ort gemacht werden können? Diese Diskussion muss geführt werden. Was heißt das für den öffentlichen Raum innerhalb der Bundesrepublik, wenn das so passieren kann? Von so einer Perspektive aus könnte man wieder eine ganz neue Sensibiltät entwickeln. Dass die Nazis sich das Thema schnappen und unter den Nagel reißen, ist wenig überraschend. Nazis schnappen sich jedes Thema, das sie für sich instrumentalisieren können. Die Positionen, die von ganz rechts außen kommen, können für eine Demokratie nicht hilfreich und förderlich sein. Wenn man von vornherein begreift, dass das nichts ist worüber man diskutieren sollte, dann kann man auch wieder mit ein bisschen mehr Ruhe über tatsächliche Probleme in der Gesellschaft reden.

Vassili Golod führte das Gespräch.

(gol)
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