Beamtenbund zur Flüchtlingskrise "In manchen Städten steht das System vor dem Kollaps"

Berlin · Um den Zustrom von Flüchtlingen in den Griff zu bekommen, benötigen die deutschen Behörden über 20.000 zusätzliche Mitarbeiter, sagt Beamtenbund-Chef Klaus Dauderstädt im Gespräch mit unserer Redaktion voraus. Außerdem verlangt er eine Verfassungsänderung, damit Bund und Kommunen besser zusammenarbeiten können.

 Klaus Dauderstädt fordert die Rückkehr zu geordneten Verfahren.

Klaus Dauderstädt fordert die Rückkehr zu geordneten Verfahren.

Foto: dpa

Deutschland kontrolliert wieder seine Grenzen — hat der Staat die Kontrolle über die Flüchtlingsbewegung verloren?

Dauderstädt Flüchtlingsbewegungen lassen sich kaum kontrollieren. Der Bund versucht, zu einem halbwegs geordneten Aufnahmeverfahren zurückzukehren. Wenn man sich die Hilferufe der letzten Tage aus München und anderen Kommunen in Erinnerung ruft, ist es dafür höchste Zeit.

Die ungarische Regierung denkt über die Ausrufung des Krisenfalles nach. Droht angesichts Hunderttausender Flüchtlinge auch in Deutschland der Kollaps?

Dauderstädt Das lässt sich nicht für die gesamte staatliche Verwaltung gleich beantworten. In manchen Kommunen, wo die Behörden unmittelbar den Zustrom bewältigen müssen, steht das System vor dem Kollaps. Auch an manchen Schulen wächst die Gefahr kollabierender Verhältnisse, denken Sie nur an die vielen Krieg traumatisierten Kinder und Jugendlichen, die integriert werden müssen. Die Gesundheitsbehörden sind mit den nötigen Untersuchungen völlig überfordert, weil in diesem Bereich schon vor der Zunahme der Flüchtlingszahlen viel Personal fehlte. Überall wird die Funktionsfähigkeit der Strukturen auf eine harte Probe gestellt.

Dann entwickelt sich mit den Flüchtlingszahlen auch der Bedarf an zusätzlichen Mitarbeitern im öffentlichen Dienst dynamisch?

Dauderstädt Natürlich. Wenn wir noch vor einem Monat von mindestens 10.000 weiteren Stellen sprachen, brauchen wir die nun schon allein an den Schulen. Inzwischen müssen wir davon ausgehen, dass wir mehr als 20.000 zusätzliche Mitarbeiter im öffentlichen Dienst brauchen, um der Flüchtlingsproblematik Herr zu werden. Und zwar in Ergänzung zu dem bereits zugesagten Aufwuchs etwa bei der Bundespolizei oder beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF).

Das Flüchtlingsbundesamt hat jetzt noch nicht so viele Mitarbeiter wie Anfang der 90er Jahre bei 400.000 Anträgen. Jetzt sind es mehr als doppelt so viele. Müssten hier nicht dringend mehr Entscheider beschäftigt werden?

Dauderstädt Es wurden ja schon mehr als 2000 weitere Stellen genehmigt. Man kann das Fachpersonal aber nicht aus dem Boden stampfen. Für den mittleren und gehobenen Dienst, in dem wir jetzt die meisten Menschen brauchen, ist in der Regel eine Ausbildung von drei Jahren nötig. Das BAMF akzeptiert inzwischen schon Bewerber mit jedem Bachelor-Abschluss. Und auch Mitarbeiter aus der Zollverwaltung helfen bereits aus. Wichtig wäre jetzt vor allem, die Verfahren zu vereinfachen.

Was soll sich ändern?

Dauderstädt Um die hohe Zahl überhaupt bewältigen zu können, muss schneller entschieden werden können. Wir sollten auf das mündliche Anhörungsverfahren bei solchen Personen verzichten, die ohnehin schon eine nahezu hundertprozentige Chance auf Anerkennung haben. Da reicht die schriftliche Schilderung. Umgekehrt sollten wir bei Antragstellern aus sichereren Herkunftsländern die Verfahren abkürzen. Die individuelle Untersuchung kann im Zweifel auch während einer gerichtlichen Überprüfung erfolgen.

Könnten auch mehr Pensionäre reaktiviert werden?

Dauderstädt Ja, das geschieht ja auch schon. Die Bereitschaft ist riesengroß. Aber wir werden Regelungen finden müssen, wie wir diesen Einsatz auch honorieren. Dafür gibt es verschiedene Modelle, die mit Prämien, Zuverdienstgrenzen und der Pensionshöhe zu tun haben. Das müssen wir schnellstmöglich anpacken. Und eine Steuerung brauchen wir auch, denn natürlich ist nicht jeder 82-Jährige für den Einsatz beim BAMF geeignet. Erschwerend kommt hinzu, dass es hier keine bundeseinheitliche Zuständigkeit gibt, sondern dass 17 Gesetzgeber gefordert sind.

Könnten schon integrierte Syrer, Afghanen, Eritreer vermehrt eingestellt werden, damit sie sich um ihre Landsleute kümmern?

Dauderstädt Das ist ein interessanter Ansatz. Sie werden vermutlich nicht als Beamte eingesetzt werden können, aber Flüchtlinge könnten sicherlich wertvolle Hilfe als Dolmetscher leisten. Wir sollten ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern. Da gibt es ein ungeheures Potenzial, das wir nicht vernachlässigen dürfen. Wer sein Leben gerettet hat und sich bis hierher durchgekämpft hat, der bringt viel Power mit und will voran kommen und Sinnvolles leisten.

Wo sehen Sie den größten Korrekturbedarf?

Dauderstädt Einerseits müssen wir mehr an die Ursachen heran. Vielleicht ist es besser, einen Brunnen in Mali zu finanzieren, als uns auf die Aufnahme malischer Flüchtlinge zu konzentrieren. Andererseits wird auch immer klarer: Mit unseren innerstaatlichen Zuständigkeiten werden wir der Flüchtlingsdynamik nicht mehr gerecht. Der Bund und die Kommunen sind bei der Flüchtlingsaufnahme in erster Linie gefragt, dann müssen sie auch direkt zusammen arbeiten können. Wir sollten den aktuellen Entscheidungsdruck deshalb dringend nutzen, um dafür auch die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen zu schaffen.

Gregor Mayntz führte das Interview

(may-)
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