Flüchtlinge in Deutschland Die große Stunde der Politik

Meinung | Berlin · Einen guten Seemann erkennt man nur bei schlechtem Wetter, heißt eine maritime Losung. Das dürfte in diesen Tagen auch für die Politik gelten. Die würdevolle Versorgung und (möglicherweise) Integration von Millionen Flüchtlingen ist eine Herausforderung, in der sich die Politik behaupten, ja beweisen kann. Es ist die Stunde der Exekutive.

 Ein junger Flüchtling im Budaptester Bahnhof: "Help me!"

Ein junger Flüchtling im Budaptester Bahnhof: "Help me!"

Foto: afp, ak/apr/ljm

Bisher haben Europas politische Eliten auf die Völkerwanderung vor allem mit Chaos, nationalstaatlichen Egoismen und Abschottung reagiert. Die Bundeskanzlerin zeichnete sich durch Zögerlichkeit aus, die Länderchefs klagen über zu wenig Geld. Kreative Lösungen zur Unterbringung und unbürokratische Hilfe kamen vor allem aus der bemerkenswert hilfsbereiten Bürgergesellschaft.

Nun ist die Politik gefragt. Europa muss sich an seine Werte erinnern. Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts soll dieses Europa sein. Ist das so? Eine faire Lastenverteilung zwischen den Mitgliedstaaten wäre der erste Schritt. Eine feste Aufnahme-Quote und einen schlagkräftigen Plan gegen die Schlepper-Mafia der zweite. Einheitliche Standards für die Unterbringung der Flüchtlinge sind zwingend.

In Deutschland müssen sich die Politiker von Bund, Ländern und Kommunen parteiübergreifend ebenfalls auf einen Masterplan für eine nachhaltige Flüchtlingspolitik einigen. Dazu gehören schnelle und abschließende Asylverfahren. Am besten dort, wo die Flüchtlinge zum ersten Mal deutschen Boden betreten, also in den Erstunterkünften. Zu einer gezielten Integration gehören Sprach- und Qualifizierungsangebote. Dazu gehören Allianzen mit der Wohnungs- und Bauwirtschaft, um schnell Unterkünfte zu bauen und die Umnutzung leer stehender Gebäude voranzutreiben. Wenn die Solidaritätswelle nicht abebben soll, müssen die Turnhallen der Republik schnell wieder für den Schulsport zur Verfügung stehen und die Asylbewerber in dauerhafte Einrichtungen ziehen können.

Wir müssen rasch Lehrer einstellen, damit die Flüchtlingskinder Unterricht bekommen. NRW hat hier schon schnell reagiert. Die Politik muss aber auch einen praktikablen Prozess anbieten, wie Flüchtlinge als Fachkraft gehalten werden könnten, selbst wenn ihr Asylstatus ein Bleiben nicht zulassen würde. Das Handwerk und Hunderte mittelständische Unternehmen an Rhein und Ruhr suchen händeringend Personal und werden offenbar auf dem heimischen Arbeitsmarkt nicht fündig.

Zu einer nachhaltigen Flüchtlingspolitik gehört aber auch eine konsequente Abschiebung derjenigen, die keine Chance auf ein Bleiberecht haben. Der Katalog der "tatsächlichen Abschiebehindernisse" (so lautet der rechtliche Terminus) sollte dringend überarbeitet werden. Die Zahl der Asylbewerber, die abgelehnt wurden und dennoch über Monate und Jahre hier bleiben, ist hoch. Das erzeugt Misstrauen in die Umsetzung unseres Rechtsstaats.

Wenn die Politik fremdenfeindliche Ressentiments im Ansatz unterbinden will, muss sie das Recht durchsetzen, und sei das Einzelschicksal auch noch so dramatisch. Und natürlich brauchen die Kommunen dringend mehr Polizei. Nicht nur um die Flüchtlingsheime zu schützen, sondern auch um Gewalt, die in den ethnisch und kulturell zusammengewürfelten Einrichtungen entstehen kann, zu ahnden.

Aktion in Bochum erinnert an 71 tote Flüchtlinge
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Foto: dpa
Von Syrien nach München – die Route der Flüchtlinge
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Foto: AP/Lefteris Pitarakis

Jeder muss wissen. Die Flüchtlingszahlen werden erst noch steigen, bevor sie sinken. Der Bau eines Grenzzauns in Ungarn dürfte die Motivation der Hilfesuchenden im Nahen Osten und in Nordafrika noch erhöhen. NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft hat am Dienstag im Landtag die Welle der Hilfsbereitschaft in diesem Land gelobt und von ehrenamtlich Tätigen berichtet, die an die Grenzen "ihrer physischen Kräfte" gehen. Die Politik sollte dem Beispiel der Bürger folgen.

(brö)
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