Erste Sondierung zwischen Union und SPD Freie Fahrt für die Sozialpolitiker

106 Tage nach der Bundestagswahl haben CDU, CSU und SPD die Sondierungen über eine neue große Koalition aufgenommen. Solidarrente, Baukindergeld, Landarzt-Garantie - die nächste große Koalition soll gegen die soziale Verunsicherung kämpfen.

 Angela Merkel vor dem Start der ersten Sondierungsrunde.

Angela Merkel vor dem Start der ersten Sondierungsrunde.

Foto: dpa, bvj

Minus fünf, minus sieben, minus zehn. Es sind diese Zahlen, die bei den Hauptakteuren der nun auch offiziell gestarteten Sondierungen zwischen SPD und Union unsichtbar über dem Verhandlungstisch schweben. Sie beziffern die Verluste der Parteien von Martin Schulz, Angela Merkel und Horst Seehofer bei der Bundestagswahl in Prozentpunkten. Die Konsequenzen aus ihren persönlichen Wahlnachlesen bestimmten bereits die vertraulichen Vorgespräche der Parteispitzen. Und jetzt weisen sie auf die Ergebnisse der fünftägigen Power-Sondierungen hin.

Seit dem Wahlschock gibt CSU-Chef Horst Seehofer vor, dass der nächste Koalitionsvertrag in Berlin eine "Wir haben verstanden"-Botschaft auf möglichst vielen Seiten enthalten müsse. Vor den CSU-Abgeordneten in der Winterklausur von Seeon wurde er konkreter: Natürlich habe auch die Flüchtlingspolitik den Wahlkampf mitbestimmt. Aber die Stimmung gegen die regierende große Koalition und deren Parteien sei wegen einer massiven sozialen Verunsicherung gekippt. Pflege, Rente und Miete nannte Seehofer als herausragende Stichwörter.

Hilfe für die mittleren Einkommen

Der Neuanfang soll deshalb vor allem den unteren und mittleren Einkommen gelten und ihren Empfängern bessere Lebensperspektiven eröffnen. Das heißt: weitgehend freie Fahrt für die Sozialpolitiker aller drei Parteien. Denn auch Angela Merkel steckt die Konfrontation in einer Wahlsendung mit einer Frau sicherlich noch in den Knochen, die nach einem aufreibenden Arbeitsleben mit 600 Euro Rente abgespeist wird.

Wahrscheinlich kommen deshalb Konzepte zum Tragen, die das System des Aufstockens in der Sozialversicherung effektiver machen. Die von der SPD favorisierte Solidarrente dürfte relativ zügig von allen Seiten akzeptiert werden - jedenfalls im Prinzip. Und auch wer arbeitsunfähig wird, soll künftig nicht mehr mit Mini-Rente die Familie in Armut stürzen müssen.

Dagegen hat die von der SPD favorisierte Bürgerversicherung nach Signalen von CDU und CSU keine Chancen. Anders als bei der ersten großen Koalition 2005 wird es auch kein Hilfskonstrukt geben, das am Ende der Regierungszeit bereits Vorarbeiten für die eine oder andere Umorganisation des Gesundheitssystems geleistet haben soll.

Die im Alltag zu erlebende Zwei-Klassen-Medizin zwischen privat und gesetzlich Versicherten gehört gleichwohl zu den Befunden, mit denen sich Protestwahlen begründen lassen. Deshalb ist zu erwarten, dass die gesetzlichen Leistungen deutlich verbessert werden. Eine "Landarzt-Garantie" gehörte bereits zu den Vorhaben, auf die sich die Jamaika-Verhandler verständigt hatten. Die Groko-Sondierer werden dahinter nicht zurückbleiben.

Frage nach bezahlbarem Wohnraum

Sie dürften auch ein "Sofortprogramm Pflege" übernehmen und die eklatanten Defizite in der Pflegeausbildung aus dem Weg räumen. In diesem Zusammenhang ist zu erwarten, dass die jüngere Generation auch von finanziellen Belastungen befreit wird und die Kinder unterhalb eines Jahreseinkommens von zum Beispiel 100.000 Euro nicht mehr für ihre pflegebedürftigen Eltern zur Kasse gebeten werden.

Erfahrene Abgeordnete vergleichen vielfach die Perspektiven der heutigen mit früheren Generationen. Dass ein Alleinverdiener Partner, Kinder, Wohnung und Auto finanzieren konnte, gehörte früher zum Selbstverständnis des Mittelstandes. Heute reichen in vielen Regionen selbst zwei Gehälter nicht mehr aus, um angemessenen Wohnraum zu finden. Eine nächste Groko wird hier massiv nachlegen und neben einer Kindergelderhöhung auch mehr Wohnungen bauen und ein Baukindergeld einführen müssen.

Streit beim Familiennachzug

Das Flüchtlingsthema wird nach den Signalen aus den Vorgesprächen der Parteispitzen drei Schwerpunkte bekommen: gesteuerte Migration jenseits der Asylwege durch ein Einwanderungsgesetz, mehr Druck auf die EU und Herkunftsländer, um Flüchtlinge besser zu verteilen und schneller zurückzuschicken, und Erhalt sowie Ausbau bestehender Hürden.

Gerade beim Streit um den Familiennachzug für Flüchtlinge wird sich schon bald zeigen, ob Union und SPD die Groko-Neuauflage wollen. Mitte März kehrt der Nachzugsanspruch für Familien von subsidiär Geschützten zurück. Wenn die erst 2015 eingeführte Möglichkeit ausgesetzt bleiben soll, muss der Gesetzentwurf bereits in Kürze von den Fraktionen in den Bundestag eingebracht werden, für eine Regierungsinitiative ist es bereits zu spät.

Hierbei erinnert die Union die Sozialdemokraten daran, die Aussetzung seinerzeit mitgetragen zu haben. An den Umständen habe sich seitdem nichts geändert.

(may-)
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