Vor Sondierungsgesprächen mit Union Die SPD hat ihren Mut verloren

Berlin · Die Sozialdemokraten gehen in einer desolaten Verfassung in die Sondierungsgespräche mit der Union. Niemand in der SPD will die große Koalition, aber die Partei hat keine richtige Alternative. Eine Bestandsaufnahme.

 Halbleer oder halbvoll? Ein Wasserglas vor dem SPD-Logo. (Symbolbild)

Halbleer oder halbvoll? Ein Wasserglas vor dem SPD-Logo. (Symbolbild)

Foto: dpa, rhi pzi sab

Es gibt keinen Zweifel: Die SPD ist die wirkmächtigste politische Kraft Deutschlands. Seit ihrer Gründung im Jahr 1863 hat die älteste demokratische Partei des Landes wie keine andere das politische Leben hierzulande geprägt.

Im Kaiserreich erzwang sie aus der Opposition und Illegalität heraus die Bismarck'sche Sozialgesetzgebung, in der Weimarer Republik hielt sie als einzige neben Zentrum und Liberalen die demokratischen Werte hoch und stimmte 1934 in einem Akt mutiger Selbstbehauptung allein gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz. In der Bundesrepublik schließlich setzte sie den Sozialstaat durch, leitete die Entspannungspolitik ein und trug maßgeblich dazu bei, dass sich die Demokratie tief in das Bewusstsein der Deutschen eingegraben hat.

Schließlich leitete ein sozialdemokratischer Kanzler, Gerhard Schröder, mit der Hartz-Gesetzgebung die bedeutendste Wirtschaftsreform seit Ludwig Erhard ein und bescherte Deutschland einen Spitzenplatz unter den Ökonomien Europas. Gemeinsam mit der Union steuerte die SPD danach das Land durch die schwerste Finanzkrise seit dem Krieg und erwies sich als verlässlicher Partner.

Es wurde viel gestritten

Und jetzt? Selten ist eine Partei so desolat in das neue Jahr gestartet. Auf dem jüngsten Parteitag in Berlin Anfang Dezember war die Misere zu besichtigen. Die SPD nach der Wahl - führungslos, orientierungslos, mutlos. Ausgerechnet die drei wichtigsten Eigenschaften, die eine lebendige Partei auszeichnen, sind bei den Sozialdemokraten faktisch nicht mehr vorhanden.

Gewiss, die SPD ist noch immer eine Debattenpartei. Es wurde gestritten in Berlin, vor allem die Jusos um ihren eloquenten Chef Kevin Kühnert mischten sich vehement in die Diskussion ein. Soll die Partei ihre politische Verantwortung wahrnehmen und in eine nicht mehr ganz so große Koalition mit der ebenfalls vom Wähler gerupften Union eintreten oder sich doch lieber in der Opposition regenerieren?

Wer genauer hinsah, bemerkte jedoch, dass die Sozialdemokraten keine echte Debatte führten. Denn die Delegierten sehnten sich nach Opposition, ihre Führung mahnte Regierungsgespräche an, und die Mehrheit - mit Ausnahme der Jusos - folgte schließlich widerwillig der Spitze um Parteichef Martin Schulz und Fraktionschefin Andrea Nahles.

Furcht vor dem unaufhaltsamen Abstieg

Seitdem fällt es den bewundernswert disziplinierten Genossen noch schwerer, sich zu einer Offensive aufzuraffen. Widerwillig in Gespräche mit der Union, mit Themen wie Europa oder Bürgerversicherung, die wenig Zugkraft entfalten, mit untauglichen Bündnismodellen wie der kooperativen Koalition und einer schwankenden Führung, die ums Überleben kämpft.

"Am Ende werden die Mitglieder gegen die große Koalition stimmen", ist der SPD-Fraktionsvize und Gesundheitsexperte Karl Lauterbach überzeugt. Er ist seit Monaten in den Ortsvereinen unterwegs und hat die Stimmung getestet.

Und die Sozialdemokraten treibt noch eine andere Angst um. Ein prominenter SPD-Politiker nennt es die "Pasokisierung der Partei". Wie einst die Pasok, die stolze sozialistische Partei Griechenlands, durch die Wirtschafts- und Finanzkrise in der politischen Bedeutungslosigkeit verschwand, so fürchten auch etliche Genossen den scheinbar unaufhaltsamen Abstieg der SPD.

Schlechtestes Ergebnis in NRW

Vorbilder gibt es reichlich: die sozialdemokratische Partei der Arbeit in den Niederlanden, die Sozialisten in Frankreich, die SDP in Finnland. Alle gehörten einst zum politischen Establishment ihrer Länder und spielen jetzt keine Rolle mehr.

Wie im Brennglas spiegelt sich die Krise der SPD in ihrem ehemaligen Stammland NRW. "Herzkammer? Stammland? Alles Selbstbetrug", stellte der Landesvorsitzende Michael Groschek beim Landesparteitag im Sommer fest. Da hatte die SPD bei der Landtagswahl mit 31,2 Prozent gerade ihr schlechtestes Ergebnis in der Landesgeschichte geholt. Bei der späteren Bundestagswahl sackten die NRW-Genossen sogar auf 26 Prozent ab.

Der im Sommer noch mit Furor ausgerufene Neuanfang stockt. Mit dem ehemaligen Landesbauminister Groschek als neuem Landeschef und Immer-Noch-Fraktionschef Norbert Römer sind die beiden führenden Köpfe zwei altbekannte Funktionäre, die das "schreckliche Jahr" der NRW-SPD mitzuverantworten haben. Groschek selbst nannte als Hoffnungsträger kürzlich den Duisburger Oberbürgermeister Sören Link. Die Landespartei dürfe "nicht zum Streichelzoo für Platzhirsche werden", sagte Groschek.

"Es läuft nicht gut für die Sozialdemokraten", meint auch die SPD-Parlamentarierin und Sozialexpertin Kerstin Griese aus Mettmann. Vor wenigen Tagen hat das Berliner Meinungsforschungsinstitut Forsa die SPD unter der 20-Prozent-Marke notiert.

Der frühere SPD-Chef Sigmar Gabriel wollte seine Parteifreunde mit einem wütenden Gastbeitrag für den "Spiegel" noch einmal aufrütteln. Er mahnte Themen wie Industrie, Leitkultur, Heimat und innere Sicherheit an. Die Quittung: Der SPD-Vorstand nominierte den Außenminister noch nicht einmal für das Gesprächsteam mit der Union.

Auch der frühere Kanzler Gerhard Schröder ist entsetzt, wie seine Partei mit erfolgreichen SPD-Politikern umgeht - einschließlich der eigenen Person. "Es gibt eben ein paar Funktionäre, die arbeiten sich gerne am früheren Kanzler ab, um selbst größer zu wirken", sagte er unlängst unserer Redaktion.

Doch der ehemalige SPD-Kanzler hält auch ein Erfolgsrezept für seine Parteifreunde bereit: "Die SPD muss die Heimat derer sein, die aufsteigen wollen. Und sie muss die Heimat derer werden, die sagen, alles was wir verteilen, muss zuvor erarbeitet werden. Das nennt man ökonomische Kompetenz. Dann schafft die Partei auch wieder ein Ergebnis von mehr als 30 Prozent."

(kess / tor)
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