Analyse Die leisen Vordenker

Düsseldorf · Die neue Liste unserer wichtigsten Intellektuellen stellt auch die Frage, welche Bedeutung die Mahner hierzulande noch haben. Ihre heroische Epoche, in der sie privilegierte Meinungsführer waren, scheint beendet zu sein.

Die Geburtsstunde des öffentlichen Geistes beginnt mit einem Aufschrei nach Gerechtigkeit: "J'accuse!" Ich klage an, überschreibt Emile Zola seinen offenen Brief gegen die Verurteilung des französischen Hauptmannes Alfred Dreyfus. Der Schriftsteller erkennt, dass es bei dem Prozess gar nicht um Spionage geht - und tatsächlich sind alle "Beweise" gefälscht. Vielmehr ist es der grassierende Antisemitismus, der das Urteil gegen den Juden Dreyfus diktiert. Es ist das Jahr 1898. Es ist die vielleicht erste Stimme eines sogenannten Intellektuellen, der seine Existenz einem selbstbewussten Bürgertum verdankt und einer Gesellschaft, der die einst selbst ernannten Meinungsautoritäten aus Fürstenhäusern und Bischofssitzen abhanden gekommen sind.

Lang ist's her. Und doch aktuell. Die 500er-Liste des "Cicero" mit den wichtigsten deutschen Intellektuellen zeigt, dass wir noch immer danach gieren, wer den Geist unserer Zeit vorgeben und den Protest zu Schieflagen formulieren könnte. Die Liste - Resultat einer wissenschaftlich begleiteten Datenerhebung - ist toll, weil wir viele gar nicht auf dem Schirm hatten. Wie Martin Walser auf Platz eins, der sich jetzt darüber amüsiert, Papst Benedikt XVI. hinter sich gelassen zu haben. Dann Peter Sloterdijk, okay - aber der literarische Eremit Peter Handke auf drei, gefolgt von den vertretbaren Hans-Werner Sinn, Thilo Sarrazin und Jürgen Habermas, bis Alice Schwarzer und Elfriede Jelinek auf acht und neun wieder überrascht. Staunenswert auch diese Nominierungen weiter hinten: Botho Strauß auf Platz 12, Reinhold Messner auf 21.

Die wichtigsten Intellektuellen sind männlich und in der Regel jenseits der 70

Wer die vorderen Plätzeinhaber beschreiben will, wird zur Erkenntnis kommen, dass unsere wichtigsten Intellektuellen männlich und in der Regel jenseits der 70 sind, dass sie keineswegs als intensive Selbstvermarkter in den sozialen Medien bekannt und in der Mehrheit politisch konservativ sind.

Und doch werden sie nach Maßgabe der Zählung am häufigsten zitiert und wohl auch bedacht. Die Vermutung liegt nahe, dass es jenseits unserer tagesaktuellen Wahrnehmung eine Strömung der Meinungsvermittlung gibt, die im Getöse der Zeit heimlich, still und leise ihre Wirkung tut. Eher im Hintergrund würde sich dann also eine Gegenöffentlichkeit formieren, die einst laut und frech und provozierend zu sein hatte. Ihre Macht war nicht ausschließlich ihr Geist, sondern auch ihre Unabhängigkeit. Als Jean- Paul Sartre 1964 den Literaturnobelpreis verweigerte, tat er dies, um sich nicht vom System vereinnahmen zu lassen. Inzwischen ist die Sorge spürbar, dass der Intellektuelle zu einer aussterbenden Spezies gehören könnte. Aus den Mahnern und Warnern von einst sind bestellenfalls säkulare Priester geworden und mitunter Hofnarren der Moderne.

Wer hat wirklich Einfluss? Wer erhebt seine Stimme in Zeiten von Terrorismus und Populismus, der Kriege und ihrer Flüchtlinge so laut, dass ihr Widerhall Debatten anstößt? Als 1989 die Berliner Mauer fiel, dröhnte die schweigsame Ratlosigkeit der Intellektuellen. Bis auf Walser übrigens, der für seine Freude über die Wiedervereinigung von den "Artgenossen" Prügel einsteckte. Vielleicht sind sie in unserer spezifizierten Welt auch zu ratlos, um die Haltung der Empörung einzunehmen und einen Spürsinn fürs Relevante zu entwickeln.

Argwöhnische Sensibilität als Tugend

Aber Fachleute sind Intellektuelle nie gewesen. Ihre Tugenden sind neben einer ordentlichen Sprachgewalt eine argwöhnische Sensibilität; ein Sinn für das, was fehlt und was anders sein könnte, ein bisschen Fantasie für Alternativen und etwas Mut zur Polarisierung, zum Pamphlet. Das hat der Philosoph Jürgen Habermas einmal als die Tugenden eines Philosophen beschrieben. Etwas Augurenhaftes wohnt dem intellektuellen Geist schon immer inne.

Vielleicht ist die Zeit der Blitzgescheiten auch einfach vorbei. Welchem System soll ihr Groll gelten, wenn sich politische Systeme mehr und mehr auflösen oder zumindest diffus zu werden scheinen? Seit der Medienrevolution stellt sich überdies ein weiteres Problem: Die zugespitzte Meinung ist nicht mehr das Privileg weniger. Es geht heute nicht allein um die Öffentlichkeit, die fast jeder inzwischen mehr oder weniger herstellen kann. Es geht jetzt zunehmend um das Schrille, um die provokante Inszenierung. Auch damit lässt sich der Ranking-Erfolg von Thilo Sarrazin (Platz fünf!) begründen.

Wobei Deutschland es seinen Intellektuellen - im Gegensatz zu Frankreich - noch nie sonderlich leicht gemacht hat. In der Weimarer Republik und erst recht im Nazi-Deutschland gaben anti-intellektuelle Reflexe den Ton an. Intellektuell war ein Schimpfwort. Selbst in der Nachkriegszeit gab es gehörigen Widerstand. Vor allem Autoren aus dem Umfeld der Gruppe 47 bekamen das zu spüren. Es kam in der Zeit des eifrigen Wiederaufbaus vielen eben nicht gelegen, wenn Günter Eich - erster Preisträger der Gruppe - in seinem legendären Hörspiel "Träume" verkündete: "Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe dieser Welt." Bundeskanzler Ludwig Erhard (1897-1977) verhöhnte die Dichter damals als "Pinscher", Bayerns Ministerpräsident Franz Josef Strauß (1915-1988) wählte zünftiger "Ratten und Schmeißfliegen". Und der Philosoph Arnold Gehlen, der als Vordenker der AfD gilt, wusste 1964 übers Seelenleben eines Intellektuellen zu sagen, dass der in der Klemme zwischen Machtlosigkeit und hochgespannten moralischen Ansprüchen stecke.

Für die 500er-Liste wird sich kein Platzierter etwas kaufen können. Auch dürfte seine Wirkmacht kaum größer werden. Was aber würden wir ohne unsere Vordenker vermissen? Wäre diese Republik eine andere? Bei allen Vorbehalten sind es am Ende doch die Worte Heinrich Manns, die - 1932 gesprochen - auch heute so richtig erscheinen: "Ich wünsche ihn, den einzelnen Intellektuellen, denn dies ist ihre Stunde."

(los)
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