Renaissance eines Gefühls Die Heimat ist der Mensch

Düsseldorf · Die Deutschen ergreift die Sehnsucht nach Heimat. Diese verspricht, was es nicht mehr gibt: die in sich ruhende Bundesrepublik. Über ein Land, das sich radikal verändert, aber gern hätte, dass es noch mal wird wie früher.

 "Der Ort, in dem man aufgewachsen ist": Rhein bei Düsseldorf (Archiv).

"Der Ort, in dem man aufgewachsen ist": Rhein bei Düsseldorf (Archiv).

Foto: Kevin Kurek/dpa

Sie ist mir letztens wieder begegnet. Nicht wie sonst zu Hause, sondern 260 Kilometer davon entfernt, in der wunderbaren Stadt Bremen. Dort oben, wo Möwen meckern und der Fisch frisch ist, hatte ich, Kind des Ruhrgebiets, dieses wohlig wärmende Gefühl in mir, das an Pfannkuchen erinnert. Die Tante meines Vaters feierte Geburtstag, ihren Neunzigsten (für den Hundertsten ist bereits geladen), und so traf sich die Familie zu Tafelspitz und Eis im Norden. Meine Eltern waren dort, einige Cousinen und Cousins meines Vaters, darunter mein Patenonkel. Viele Jahre hatte ich ihn nicht gesehen, aber als wir an einem Tisch saßen, Wein tranken und zwischen Späßen und ernsten Themen schwankten, da wusste ich: Das hier ist sie, die Heimat.

Dieser so urdeutsche Begriff erfährt eine überraschende Renaissance. Politiker aus allen Lagern laben sich an ihm. Die einen wollen die Heimat gegen das Fremde verteidigen, die anderen wahrscheinlich auch, aber sie geben es nicht so gern zu. Sogar Ministerien tragen die Heimat in ihrem Namen. Im Supermarkt verkaufen sie Schlangengurken aus heimischen Gärten und am Kiosk Zeitschriften, die eben dorthin führen sollen. Hotelketten vertreiben die Heimat als All-inclusive-Paket, mit Radwanderkarte und gesundem Obstteller für die Fichtensauna. Sie bedienen letztlich alle dieses eine Gefühl der Sehnsucht.

Für die Rechten besteht Heimat aus Ausgrenzung, Nationalismus, Abschottung. Die Heimat ist für sie das klischeebehaftete Leben auf dem Land, eine Absage an gesellschaftlichen Fortschritt und das Fremde. Die Heimat der Rechten ist überschaubar und provinziell; eher Eintopf als Tafelspitz. Sie überfordert nicht, weil sie ein propagandistisch erzeugtes Bildnis ist - überzeichnet und verlogen. So wie die Rechten versuchen, den Heimatbegriff in ihrem Sinne aufzuladen, versuchen heute, im Jahr 2018, unterschiedliche Interessengruppen die Deutungshoheit über den Begriff für sich zu proklamieren. Das Label Heimat soll Schlangengurken an den Mann bringen, Rechten zu Auftrieb und Regierungskoalitionen zum Erfolg verhelfen.

In diesem Sinne ist Heimat eine Art Mandala, das jeder mit seinen Lieblingsfarben ausmalen kann. Und gleichwohl besteht die Gefahr, dass diese Heimat bloß mit einem gestrigen Inhalt aufgeladen wird. Dann aber wäre Heimat nur eine Erinnerung an die vermeintlich gute alte Zeit mit der Hoffnung, dass es noch mal wird wie früher. Das wäre indes leider nicht mehr als eine traurige Illusion. Und daher ist Heimat auch viel mehr als das.

Dieses Land verändert sich radikal, vieles davon kann verwirren. Das sehen Sie auf den Straßen, wo die Menschen Smartphones tragen, während sie den Kinderwagen schieben. Das sehen Sie im Bundestag, wo rechte Schreihälse beklagen, dass sie nicht mehr sagen dürften, was sie gerade sagen. Das sehen Sie an jungen Berufstätigen mit befristeten Verträgen und miesen Gehältern, die versuchen, eine Familie zu gründen. Das sehen Sie in Ihrer Nachbarschaft, wo nummerierte Container Obdach für Flüchtlinge aus aller Welt sind. Das sehen Sie an der Metzgerei, die bald schließt, weil sie keinen Nachfolger findet. Das sehen Sie an der Großmutter, die zur Tafel geht, weil die Rente nicht reicht. Deutschland, dieses Heimatland, erinnert nicht mehr an das Land der alten, in sich ruhenden Bundesrepublik. Die Menschen misstrauen einander, und sie misstrauen diesem neuen Land. Kann es noch ihre Heimat sein?

Darum geht es doch. Darum installiert die Politik Ministerien der Heimat. Weil sie versucht, das zerrissene Land zusammenzuhalten. Weil sie den Wandel bemerkt, aber nicht spürt. "Es geht nicht um Dirndl oder Lederhose, sondern um gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Regionen und um den gesellschaftlichen Zusammenhalt", hat der neue Heimatminister Horst Seehofer (CSU) der "Bild am Sonntag" gesagt. Das klingt sogar fast progressiv, weil der Minister alle gleich umgarnen will. Sein Amt ist aber bloß ein Erste-Hilfe-Koffer für ein Land, das sich ein Bein gebrochen hat.

Die Heimat ist höchstpersönlich. Seehofer träumt von einer gewissen Portion Homogenität, dabei ist das Land mit individuellen Träumen und Albträumen befasst. Die Gesellschaft singularisiert sich, sie lässt sich nicht mehr ganz einfach definieren. Vielleicht müsste die Politik sich darauf einstellen, statt wehmütig auf die Vergangenheit zu starren. Nach vorne führt der Weg, und das ist auch ganz gut so. Die Heimat darf man nicht den Rückständigen überlassen, sie gehört ihnen nicht allein, sondern sie gehört allen.

Heimat ist für die einen das Dorf, für die anderen die Stadt. Sie kann eine konkrete Adresse mit Postleitzahl und Hausnummer sein, eine ganze Region, das Elternhaus, sich aber auch ganz neu entwickeln. Der Ort, wo die eigenen Kinder aufwachsen, wo sich Familien gründen, kann zur Heimat werden. Manche Menschen haben gar keine Heimat im klassischen Verständnis. Aber auch sie können eine Vorstellung davon haben, wenn sie im Kreise derer sind, die ihnen das Gefühl der Zugehörigkeit vermitteln. "Heimat ist der Mensch, dessen Wesen wir vernehmen und erreichen", hat Max Frisch in seinem Tagebuch von 1949 geschrieben. Diese Menschen können in der Ferne sein, und wenn man sie sieht, dann ist da plötzlich die Heimat, gleich an welchem Ort.

Es ist daher auch kein trauriges Gefühl, sondern ein tröstliches. Das Land mag sich wandeln, das eigene Leben auch, aber die Menschen, die ein Stück unserer Heimat in sich tragen, die bestehen irgendwo immer fort. So wie mein Patenonkel mir in Bremen zur Heimat wurde, so kann ich ihm Heimat sein. In der Vergangenheit liegt keine Zukunft, nicht in der Politik und auch nicht zu Hause.

(her)
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