Gastbeitrag Warum den Niederländern Deutschland ein bisschen egal ist

Düsseldorf · Essay Wir Niederländer machen Urlaub in Deutschland, haben oft dieselben Interessen wie der große Nachbar. Der Hass aus der Nachkriegszeit? Verschwunden. Aber Liebe? Nein, noch immer nicht. Deutschland ist uns ein bisschen egal.

 Tulpen und Windmühlen - die Niederlande sind mehr als dieses Klischee. Das Selbstbild der Bewohner des Landes hat sich in den vergangenen Jahren gewandelt.

Tulpen und Windmühlen - die Niederlande sind mehr als dieses Klischee. Das Selbstbild der Bewohner des Landes hat sich in den vergangenen Jahren gewandelt.

Foto: Andrea Warnecke/dpa

Der Hass der Niederländer auf die Deutschen aus der Nachkriegszeit ist verschwunden - aber was ist an seine Stelle getreten? Liebe ist es nicht. Deutschland, schreibt Chris van Mersbergen, Journalist aus 's-Hertogenbosch, ist uns Niederländern ein bisschen egal.

 Der Autor (36) ist Niederländer und schreibt für das "Brabants Dagblad" in 's-Hertogenbosch.

Der Autor (36) ist Niederländer und schreibt für das "Brabants Dagblad" in 's-Hertogenbosch.

Foto: Marc Bolsius

Früher war für uns alles sehr eindeutig. Wir Niederländer waren locker, "gezellig". Wir waren bekannt für unsere Toleranz, Cannabis war erlaubt, und nirgendwo konnten Homosexuelle früher heiraten als bei uns. Wir hatten Johan Cruyff, Marco van Basten, Dennis Bergkamp - Zauberer am Ball. Gut, wir waren nur Zweiter bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1974. Aber was soll's? Wir spielten abenteuerlicher als die Deutschen, waren technisch überlegen, oder? Und 1988 korrigierten wir den Schönheitsfehler von 1974: Europameister, in Westdeutschland. Ha!

Oh Gott, wir hatten so ein tolles Land. Deutschland war unser Erzfeind, in fast allem. Wir hassten die nervigen Fußballer wie Lothar Matthäus und Stefan Effenberg. Wir fanden uns viel geschmackvoller als die schlecht gekleideten, blondierten Männer, die Horst und Heinrich hießen und keinen Humor hatten. Wir ärgerten uns über die Deutschen in Seeland, die Löcher in den Sand gruben. Und wir fühlten uns moralisch überlegen.

Feindbilder sind reich an Klischees. Die Realität aber ist natürlich nicht schwarz-weiß, sondern vielschichtiger. Wir fühlten uns aber gut mit diesem Klischee. Schaut uns an, das "Kuschelländchen", so viel attraktiver als der große unsympathische Nachbar.

Wie sich die Dinge ändern! Ich habe bereits das Schimpfwort "Mof" erwähnt, das inzwischen veraltet ist. Genau wie der Witz über Opas Fahrrad, das die Deutschen noch zurückgeben müssen, weil Hitler es im Krieg konfisziert hat.

Im Jahr 2018 gilt Deutschland kaum mehr als unser großer, verhasster Rivale. Fußball könnte ein Ansporn sein, sich an alte Gefühle zu erinnern. Aber ja, der niederländische Fußball ... Würde unsere Mannschaft Samstagnacht eine deutsche Diskothek besuchen, niemand würde es bemerken.

Dass Ressentiments mit der Zeit verschwinden, ist logisch: Der Krieg endete vor mehr als 70 Jahren. Aber es gibt noch mehr Gründe, sagt Friso Wielenga, Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien in Münster: "Die Niederlande sind seit den 90er Jahren selbstkritischer geworden. Ihnen wurde klar, dass das eigene Verhalten im Krieg auch nicht so heldenhaft gewesen ist. Und die Kriegsverbrechen in Indonesien in den Jahren 1945 bis 1949 bekamen Aufmerksamkeit. Der Massenmord an Tausenden bosnischen Muslimen 1995 in Srebrenica, den die niederländischen Blauhelmsoldaten nicht verhindern konnten, war ein dunkles Kapitel. Und dann gab es den Aufstieg des Populismus."

Mit anderen Worten: Wir waren plötzlich genug mit uns selbst beschäftigt. Den Drang, uns mahnend an unseren Nachbarn zu wenden, wie beim Brandanschlag mit rechtsextremem Hintergrund in Solingen im Jahr 1993, als Helmut Kohl aus den Niederlanden 1,2 Millionen Karten mit dem Text "Ich bin wütend" erhielt, gab es nicht mehr.

Wir lernten - auch das muss man sagen - die schönen Seiten Deutschlands kennen. Niederländische Familien genossen ihren Urlaub in den Wäldern und an den Seen. Die Jugendlichen entdeckten Berlin. 2007 überholte Deutschland Frankreich als beliebtestes Urlaubsland der Niederländer. Und vor 20 Jahren noch weniger vorstellbar: Oktoberfeste breiten sich nun auch bei uns aus.

Es gibt auch eine geopolitische Erklärung für die Annäherung. Denn während die Welt sich globalisierte und die EU größer wurde, kam die Erkenntnis: So stark weichen wir eigentlich nicht von den Deutschen ab. Wir haben oft dieselben Interessen - wirtschaftlich wie politisch. Wir stehen vor den gleichen Herausforderungen: dem Zustrom von Flüchtlingen, dem Erstarken des Populismus. In diesem Sinne fühlt sich Deutschland immer vertrauter an. Liebe ist es jedoch nicht.

Zum Beispiel ist die Begeisterung für das Erlernen der deutschen Sprache nicht sehr groß. "Es gibt hier in Münster mehr Studenten, die Niederländisch lernen, als Studenten in den ganzen Niederlanden, die Deutsch lernen", sagt Wielenga betreten.

Bas Pauw, Amsterdamer und Vertreter der Niederländischen Stiftung für Literatur, merkt auch, dass die deutsche Sprache an Beliebtheit verliert: "Die Niederländer waren immer stolz darauf, viele Sprachen zu sprechen." Aber das gelte inzwischen nur noch für Englisch. Bücher auf Deutsch werden wenige verkauft. Die Niederländer betrachten die deutsche Sprache, obwohl sie eng mit der eigenen verwandt ist, als hässlich, hart, unattraktiv.

Deutsche Fernsehserien? Gucken wir nicht. Filme? Nur wenn es um deutsche Geschichte geht. "Der Untergang" und "Das Leben der Anderen" waren beliebt. Es ist bemerkenswert, dass ein so großes Land so wenig kulturellen Einfluss auf seinen Nachbarn hat. Früher stand die Feindseligkeit zwischen uns, heute ist es eher Desinteresse.

Wie steht es also um die Beziehung zwischen den beiden Ländern? Sie ist stinknormal, sagt Wielenga. Vielleicht hat er recht. Wir sind normale Nachbarn. Wir reden miteinander, wenn es nötig ist. Wir teilen Interessen, haben aber auch unsere Konflikte. Stinknormal ist unsere Beziehung also, vielleicht ist sie uns sogar gleichgültig. Aber mit Blick auf die schwierige Vergangenheit müssen wir damit leben.

Nein, diesen Sommer sind wir nicht bei der Fußball-WM in Russland. Und nein, das ist kein ehrenhafter Protest gegen die Politik von Präsident Wladimir Putin. Aber werde ich nun die deutsche Mannschaft anfeuern? Nein, tut mir leid. Vergesst nicht, wir haben noch einen Nachbarn. Hup Belgien!

(RP)
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