Serie "Glaube und Gewalt" Droht Deutschland die Islamisierung?

Berlin · Viele Deutsche treibt die Angst vor einer schleichenden Islamisierung um. Tatsächlich könnte der Islam in ferner Zukunft die christlichen Kirchen bei der Zahl der Mitglieder überrunden. Eine Herausforderung für die Demokratie.

 Die Zentralmoschee in Köln.

Die Zentralmoschee in Köln.

Foto: dpa, obe pzi

Es sollte offenbar ein Scherz sein, was der deutsch-türkische Touristik-Unternehmer Vugal Öger im Mai 2004 bei einem Essen mit Wirtschaftsvertretern zum Besten gab. "Im Jahr 2100 wird es in Deutschland 35 Millionen Türken geben. Die Einwohnerzahl der Deutschen wird dann bei ungefähr 20 Millionen liegen."

Und dann legte er noch einen drauf. "Das, was Sultan Süleyman 1529 mit der Belagerung Wiens begonnen hat, werden wir über die Einwohner mit unseren kräftigen Männern und gesunden Frauen verwirklichen." Berichtet hatte damals die türkische Zeitung "Hürriyet".

Sarrazins Rechenspiele

Der frühere Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin rechnete nach. Die Zahlen stimmen, so schrieb er 2010 in seinem umstrittenen Bestseller "Deutschland schafft sich ab".

Dazu müsste nur die Kinderzahl in den ursprünglich deutschen Familien weiterhin so niedrig bleiben wie bisher und die muslimische Bevölkerung durch höhere Geburtenraten und Zuwanderung wachsen. "Es ist wie in der Erzählung der Getreidekörner auf dem Schachbrett. Schon nach kurzer Zeit wächst die Getreidemenge ins Astronomische, selbst wenn man ganz harmlos mit einem Korn anfängt und die Zahl der Körner auf jedem Feld des Schachbretts nacheinander verdoppelt."

Sarrazin hat eine Modellrechnung bis in die weite Zukunft gewagt und Alarmierendes zutage gefördert. In nur 50 Jahren ist die Zahl der Geburten der deutschen Frauen ohne Migrationshintergrund, man nennt es die autochthone Bevölkerung, auf nur 40 Prozent ihres einstigen Wertes geschrumpft.

Im Mittelpunkt der Argumentation Sarrazins steht die Nettoreproduktionsrate. Das ist die Ziffer, die die Zahl der lebendgeborenen Töchter pro Mutter angibt. Dem Ansatz liegt zugrunde, dass nur Frauen Kinder gebären können. Liegt die Nettoreproduktionsrate bei eins, stagniert die Bevölkerung, bei größer als eins wächst sie, entsprechend schrumpft sie, wenn die Ziffer bei weniger als eins liegt.

Nettoreproduktionsrate von 0,66

In Deutschland liegt die Nettoreproduktionsrate bei 0,66. Das heißt, in einer Generation schrumpft die Zahl der gebärfähigen Frauen um rund 35 Prozent. Sarrazin geht sogar noch weiter. Er hat errechnet, dass der Anteil der Kinder von Menschen, die aus islamischen Ländern in jüngster Zeit zugewandert sind, von derzeit 6,5 Prozent auf fast 70 Prozent in nur vier Generationen, also bis etwa 2100, ansteigen könnte.

Bislang hat noch niemand in Deutschland Sarrazins Zahlen widerlegt, aber auch nicht in anderen Studien bestätigt. Eine wirkliche Diskussion ging in der Polemik unter, die das umstrittene Buch begleitet hatte. Die deutschen Forschungseinrichtungen, die sich mit Bevölkerungsentwicklung und Migration beschäftigen, erstellen keine Prognosen über die künftige Religionszusammensetzung in Deutschland.

Sarrazin hält das für einen Fehler. "Sie blenden die wichtige Frage der künftigen kulturellen, religiösen und ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung in Deutschland aus", meint der Autor, der nach wie vor von der Richtigkeit seiner Berechnungen überzeugt ist.

Zuwanderung lässt sich nur schwer abschätzen

Allerdings muss es nicht so kommen. Denn auch Sarrazin gibt zu, dass es sich um Modellrechnungen, nicht um zuverlässige Prognosen handelt. Tatsächlich lässt sich etwa Zuwanderung nur sehr schwer abschätzen. Zuletzt kam nur ein geringer Teil der Migranten aus islamischen Ländern.

Dann haben Bevölkerungswissenschaftler festgestellt, dass auch bei Zuwanderern die Geburtenraten steil nach unten gehen, sind sie einmal im Land. Das amerikanische Forschungsinstitut Pew, das sich mit Religionsstatistik beschäftigt, hat zum Beispiel bei europäischen Muslimen eine Halbierung der Wachstumsrate ermittelt.

Die Pew-Wissenschaftler kommen zum Ergebnis, dass der Anteil der muslimischen Bevölkerung bis zum Jahr 2030 in Europa von sechs auf acht Prozent, in Deutschland von derzeit fünf auf sieben Prozent steigt. Das sind moderate Zuwachsraten.

Auch wenn das Pew-Institut von zum Teil schon veralteten Daten des Mikrozensus von 2005 ausgeht, ist es als erste Annäherung für die nahe Zukunft nicht schlecht. Doch Sarrazin behauptet auch nicht, dass die in seinem Buch beschriebenen Trends in den nächsten 15, sondern eher in den nächsten 50 Jahren erfolgen. Das macht seine Rechnungen aber noch weniger aussagekräftig.

Jeder sechste Grundschüler in NRW ist muslimisch

Umgekehrt lässt sich schon jetzt beobachten, dass der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund zunimmt. So sind in Deutschland rund 20 Prozent der Menschen entweder zugewandert oder haben zumindest einen ausländischen oder zugewanderten Elternteil.

In der jüngeren Bevölkerung bis 20 Jahre beträgt der Migrationsanteil schon 31,5 Prozent. In Nordrhein-Westfalen ist jeder sechste Grundschüler muslimisch, Tendenz steigend. In den Hauptschulen ist es fast jeder vierte.

Der Anteil ist zudem ungleich verteilt. In Gebieten mit hohem Migrationsanteil wie Duisburg-Marxloh oder Berlin-Neukölln ist der Islam in den Klassen schon die stärkste Religion. In anderen europäischen Großstädten gibt es ebenfalls Viertel, die schon mehrheitlich von Muslimen bewohnt werden wie Teile der Pariser Vorstädte oder der Brüsseler Stadtteil Saint-Gilles.

Für die belgische Hauptstadt und wichtigste Entscheidungszentrale der Europäischen Union erwarten Experten in den kommenden 20 Jahren eine mehrheitlich muslimische Bevölkerung. In Amsterdam sind mehr als die Hälfte der Neugeborenen islamisch.

Doch von da bis zu einer wirklichen Mehrheit der Muslime in den bislang christlich oder agnostisch geprägten Ländern Europas ist es ein weiter Weg. So hat sich die Zahl der Muslime in Europa seit 1991 zwar fast verdoppelt. Aber selbst 60 Millionen Angehörige des islamischen Glaubens, die das Pew-Institut für 2030 schätzt, dürften angesichts von 700 Millionen autochthonen Europäern verkraftbar sein.

Herausforderung für die Demokratie

Eine Herausforderung für die Demokratie ist die wachsende Zahl der Muslime, die ihre Gebetshäuser und Moscheen bauen und ihre Lebensgewohnheiten und Glaubensvorschriften mitbringen, schon.

Dass manche Schulen in Deutschland bereits auf Schweinefleisch gänzlich verzichten, ist vergleichsweise harmlos. Dass Mütter ihre Kinder in Burkas oder anderen Formen der Vollverschleierung abholen, führt schon eher zu Missverständnissen und Kritik. Auch die Ankündigung mancher Bundesländer, muslimische Feiertage gesetzlich anzuerkennen, stößt bei der Mehrheitsbevölkerung nicht nur auf Gegenliebe.

Richtig kritisch wird es, wenn sich muslimische Gruppen in einer Parallelgesellschaft einrichten, eigene Rechtsvorstellungen wie die Scharia ausleben oder einen Kodex beachten, der Ehrenmord und andere rechtswidrige Taten erlaubt. So hat auch der frühere rheinland-pfälzische Justizminister Jochen Hartloff (SPD) schon über eine teilweise Zulassung der Scharia nachgedacht und damit wütende Reaktionen ausgelöst.

Wie klar Muslime zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie stehen, ist nicht eindeutig zu ermitteln. Nach dem Bertelsmann-Monitor halten 80 Prozent der befragten Islam-Angehörigen die Demokratie für eine "gute Regierungsform", mehr als die Ostdeutschen, die das nur zu 76 Prozent tun. Allerdings meint auch jeder dritte Moslem, führende Religionsvertreter sollten mehr Einfluss auf Regierungsentscheidungen nehmen.

Welchen Werten fühlen sich Muslime verpflichtet?

Zu deutlich kritischeren Einschätzungen kommt der niederländische Soziologe Ruud Koopmans vom Wissenschaftszentrum Berlin. Er hat in den sechs europäischen Ländern Deutschland, Frankreich, Niederlande, Belgien, Österreich und Schweden untersucht, welchen Werten sich die muslimische Bevölkerung verpflichtet fühlt.

Danach sprechen sich fast 60 Prozent der Befragten für eine Rückkehr zu den religiösen Wurzeln aus. 75 Prozent glauben gar, dass es nur eine Auslegung des Korans gibt, die für alle verbindlich sei und 65 halten religiöse Regeln für wichtiger als Gesetze.

Als fundamentalistisch bezeichnet Koopmans jeden Religionsangehörigen, der alle drei Aussagen bejaht. Das sind bei den Muslimen 44 Prozent gegenüber vier Prozent bei Christen. Für Koopmans ist das Ausmaß des islamischen Fundamentalismus "ein ernsthafter Grund zur Besorgnis" und keinesfalls nur ein Randphänomen.

Diese Einschätzung teilt Yasemine El-Menouar, die für die Bertelsmann-Stiftung den Religionsmonitor betreut, ausdrücklich nicht. "Muslime sind im Schnitt konservativer als Christen oder Nichtgläubige, aber sie sehen vielfach keinen Widerspruch zwischen ihren Glaubensvorschriften und dem demokratischen Rechtsstaat."

Nur so dürfte es gelingen, auch eine größer werdende islamische Gemeinde in die westlichen Ordnungen und Wertvorstellungen einzubinden.

(RP)
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