Die Welt fünf Jahre nach Fukushima Der ideologische Tsunami

Meinung | Berlin · Fünf Jahre nach der Atomkatastrophe in Japan hat sich die Welt anders entwickelt als die Deutschen sich das dachten. Die meisten Staaten und selbst Japan setzen weiter auf Kernkraft. Viele verstehen den deutschen Ausstieg nicht.

Die schreckliche Naturkatastrophe von Japan mit über 17.000 Getöteten und Vermissten traf heute vor fünf Jahren mitten in die gerade auf den Weg gebrachte Laufzeitverlängerung für die deutschen Atommeiler. Die großen Schlachten der Auseinandersetzung waren längst geschlagen. Auch die schwarz-gelbe Koalition hatte ihren Glauben an die unendliche Zukunft der Kernenergie längst aufgegeben und wollte sie im Grunde nur noch als "Brücke" in eine andere Energieversorgung so lange weiter nutzen, wie sichere Kraftwerke in Deutschland sauberen Strom liefern und die Energiepreise niedrig halten.

An den Neubau von noch moderneren Kraftwerken dachte schon kein Verantwortlicher mehr. Insofern war es keine radikale Umkehr, die unter dem Eindruck der verheerenden Tsunami-Folgen in dem japanischen Atomkraftwerk Fukushima, eingeleitet wurde. Die Merkel-Regierung gab der angezählten Kernkraft lediglich den Rest.

Fernsehszenen schienen alle Sicherheitsvorkehrungen zu widerlegen

Die Atomlobby hatte das ausgerechnet von einer Physikerin nicht erwartet, die technisch-fachlich wie politisch stets alle Umstände einrechnet und sorgsam abwägt, statt aus dem Bauch heraus zu entscheiden. Doch in dem Fall trog Merkel ihr Mentalitätscheck nicht: Die Bilder von den durch die Kernschmelze berstenden Betonriesen im fernen Japan lösten eine emotionale Atompolitik-Schmelze in der Befindlichkeit der Deutschen aus.

Die Fernsehszenen aus Fukushima schienen alle Gutachten, Szenarien, Sicherheitsvorkehrungen in Deutschland alternativlos zu widerlegen. Man hätte vermutlich wochenlang darüber diskutieren können, ob ein tsunamiunsicheres Kernkraftwerk in einem potenziellen Tsunamigebiet, das auf sträflichst fahrlässige Weise seinem Schicksal überlassen worden war, auch nur im Entferntesten mit den Sicherheitsansprüchen und Sicherheitsauflagen der deutschen Kernkraftwerke verglichen werden kann — und es hätte alles nichts mehr genutzt: Der emotionale Tsunami hatte die deutschen Kernkraftbefürworter unter sich begraben.

Der emotionalen folgte die ideologische Welle

Und wie das Naturphänomen häufig aus zwei vernichtenden Wellen besteht, folgte der emotionalen sogleich die ideologische Welle. Die Wassermassen rissen in Deutschland gleich alles mit sich weg, was irgendwie mit Atom zu tun hat. Dass wir wenigstens noch an die Exaktheit der Atomzeit glauben, ist eine löbliche Ausnahme. Ansonsten wurde nahezu alles mit dem Stempel "Ausstieg" versehen. Und zwar unterschiedslos.

Mochten sieben Meiler auch noch verlässlich laufen — ausschalten. Mochten die Gefahren für die Stromversorgung in Spitzenzeiten auch noch so ungeklärt sein — aussteigen. Man könnte im Extremfall halt immer noch auf den europäischen Stromverbund mit den Atomkraftwerken im Ausland zurückgreifen. Und vor allem: Der hohe Sicherheitsstandard der deutschen Atomkraftbauer kam genauso wie die führende deutsche Kernkraftforschung auf den Index.

Spätestens an der Stelle fängt Ideologie an, sich von der Emotion zu verabschieden. Wie sicher macht es Deutschland, wenn wir nicht mehr tatkräftig mit dafür sorgen wollen, dass wenigstens die uns umgebenden Nationen, die weiter auf Kernenergie setzen, über mehr statt weniger Sicherheit in ihren Meilern verfügen? Und warum ist es uns eigentlich egal geworden, ob wir die selbst gesetzten Klimaziele inzwischen wieder und wieder verfehlen, Hauptsache der Anteil der erneuerbaren Energien steigt wie gewünscht?

Wir messen mit unterschiedlichem Maß

Wenn, sagen wir, in Japan schlecht gebaute und schlecht gewartete Windkraftanlagen umstürzen und zu einer Katastrophe mit vielen hundert Toten führen würden, wäre dann der Ausstieg aus der Windenergienutzung in Deutschland unausweichlich? Dass wir diese Frage vermutlich alle mit einem Kopfschütteln beantworten, zeigt, mit welch unterschiedlichem Maß wir messen.

Ab und zu wird den politisch Verantwortlichen der deutsche Sonderweg bewusst. Als Briten-Premier David Cameron der CSU-Landesgruppe in Wildbad Kreuth einen Besuch abstattete, fand er viele Gemeinsamkeiten zwischen den europäischen und den deutschen Politikern — und einen markanten Unterschied: Für die Briten und viele anderen sei die Kernkraft als preiswerte, beherrschbare und vor allem ökologisch saubere Energieerzeugung Ausdruck tiefster Überzeugung.

Mancher CSU-Politiker, der aus tiefster Überzeugung Jahrzehnte seines Lebens für die Kernenergie eingetreten war, konnte sich bestens daran erinnern — und kam zugleich doch zu dem Ergebnis, dass der ideologische Tsunami in Deutschland alles hinweggetragen hat, auf dem man eine vernünftige Diskussion mit rationalen Risiko-Abwägungen wieder aufbauen könnte. Vorbei.

Immer noch liegen Säcke mit kontaminiertem Material herum

Hinzu kommt, dass Japans Umgang mit der Katastrophe die Anti-Atomströmung mit ständig neuem Wasser versorgt. Dass auch nach so langer Zeit noch Säcke mit kontaminiertem Material unversorgt in der Gegend herumliegen und somit bei Hochwasser die Strahlung erneut in die Flüsse tragen, ist einfach unfassbar und spricht eindeutig gegen eine Beherrschbarkeit der Kernenergie in Japan. Aber wäre ein solcher Umgang unter deutscher Strahlenschutzgesetzgebung auch nur im Entferntesten denkbar?

Wenn das Kernkraftwerk Grohnde darauf aufmerksam macht, dass es als weltweit erstes die Leistung von 350 Milliarden Kilowattstunden Strom erreicht hat und damit der Umwelt im Vergleich zu herkömmlichen aber ideologisch unverdächtigen Kraftwerken 350 Millionen Tonnen Co2 erspart hat, ist das kein Anlass, noch mal ins Nachdenken zu kommen, sondern allenfalls Grund, sich im Netz über die ewiggestrige Atomindustrie lustig zu machen, die die Zeichen der Zeit wohl immer noch nicht verstanden haben.

Vielleicht wird nicht nur das internationale Umfeld irritiert auf den deutschen Weg schauen, sondern irgendwann auch einmal die deutsche Öffentlichkeit. Spätestens dann, wenn Deutschland wegen seiner Aversion gegen die Kernenergie die Chancen und Möglichkeiten der Kernfusion verschläft.

(may-)
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