Verena Bentele "Das geltende Behindertenrecht ist familienfeindlich"

Die Regierungsbeauftragte Verena Bentele will Menschen mit Behinderung aus der Sozialhilfe holen und wirbt für deren Fähigkeiten auf dem Arbeitsmarkt.

 Verena Bentele (32) ist neue Behindertenbeauftragte der Bundesregierung.

Verena Bentele (32) ist neue Behindertenbeauftragte der Bundesregierung.

Foto: dpa

Auf dem Schreibtisch der ehemals erfolgreichen deutschen Biathletin Verena Bentele im Arbeitsministerium steht ein sprechender Computer, ihr Laptop ist mit Blindenschrift ausgestattet — die vierfache Weltmeisterin und zwölffache Paralympics-Siegerin zeigt als Behindertenbeauftragte, wie einfach auch ein blinder Mensch wichtige Regierungsaufgaben wahrnehmen kann.

Die Koalition diskutiert die Teilhabe Behinderter unter dem Aspekt der finanziellen Lastenteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Wie wirkt das auf die Betroffenen?

Bentele Natürlich geht es immer auch um die Finanzierbarkeit. Denn ohne Frage kostet die Teilhabe von Menschen mit Behinderung Geld. Aber ich will vor allem eine inhaltliche Diskussion. Denn es darf nicht sein, dass wir uns aus der Entlastung der Kommunen heraus der Frage nähern, was wir für Menschen mit Behinderung leisten können und leisten sollen.

Was steht für Sie an erster Stelle?

Bentele Es geht um die Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderung. Sie müssen raus aus der Sozialhilfe und rein in ein Teilhabesystem, in dem sie ein eigenes Budget haben und selbst entscheiden können, von wem sie welche Art von Unterstützung brauchen, um selbstständig leben zu können. Die Leistungen für Menschen mit Behinderung dürfen nicht über die Sozialhilfe erbracht werden. Wichtig ist mir auch, dass Leistungen unabhängig von Einkommens- und Vermögensgrenzen bezahlt werden.

Was hat es damit auf sich?

Bentele Menschen mit Behinderung, die einen hohen Assistenzbedarf haben, dürfen nur 2600 Euro auf dem Konto haben. Sie können keine Rücklagen bilden, nicht für ein Auto, einen Urlaub, eine Wohnung oder für die Ausbildung der Kinder sparen. Und ihnen wird auch die Motivation genommen, mehr zu verdienen. Ich finde, dass auch hier der Grundsatz "Leistung muss sich lohnen" zu gelten hat. Diese Vorschrift ist zudem familien- und partnerschaftsfeindlich, da auch das Einkommen des Partners angerechnet wird. Deshalb gehört sie abgeschafft.

Wann kommt das neue Bundesteilhabegesetz?

Bentele Das Gesetz soll 2016 verabschiedet werden, damit es 2017 in Kraft treten kann. Wichtig ist mir von Anfang an die Beteiligung von Menschen mit Behinderung am Gesetzentwurf. Daher lege ich Wert darauf, dass hier im Ministerium Gespräche mit Betroffenen-Verbänden geführt werden.

Was ist Ihnen besonders wichtig?

Bentele Neben den einkommensunabhängigen Leistungen und individuellen Bedarfsermittlungen müssen wir genau darauf achten, von wem Menschen mit Behinderung unterstützt werden. Derzeit ist die Landschaft der Hilfe sehr zerklüftet. Das führt dazu, dass Betroffene von einer Stelle zur anderen geschickt werden, weil oft nicht klar ist, wo die Zuständigkeiten liegen. Es muss eine möglichst unabhängige und individuelle Beratung geben.

Die Eingliederung wird oft beherrscht von der Debatte über die Inklusion in Schulen. Wie reagieren Sie auf die vielen Bedenken?

Bentele Das kann jedenfalls nicht gelingen, wenn es nur darum geht, die Gelder für spezielle Förderschulen zu sparen und darauf zu hoffen, dass der gemeinsame Unterricht schon gelingen wird. Wir müssen hier einen Schritt nach dem anderen gehen, und zwar auf der Grundlage von ganzheitlichen Konzepten. Das Lehramtsstudium muss dem deutlich stärker Rechnung tragen, und auch die Klassengrößen spielen eine wichtige Rolle.

Können Sie mit der Eingliederung in den Arbeitsmarkt zufrieden sein?

Bentele Es hat sich viel getan, aber es besteht noch ein deutlicher Nachholbedarf. Das lässt sich daran ablesen, dass auch ausgezeichnet qualifizierte Menschen mit Behinderung in einem höheren Maße arbeitslos sind als Menschen ohne Behinderung.

Womit können Sie Arbeitgeber überzeugen?

Bentele Vielfalt ist in jedem Unternehmen eine Bereicherung. Den "Sound" eines Autos kann auch ein Ingenieur entwickeln, der nichts sieht. Ein Lehrer im Rollstuhl kann nicht nur guten Unterricht erteilen, sondern den Kindern auch eine andere Perspektive vermitteln. Menschen mit Down-Syndrom sind mit ihrer Offenheit und Kontaktfreude eine Bereicherung für jedes Team und verrichten ihre Arbeit mit Ehrgeiz und Spaß.

Wie wollen Sie das fördern?

Bentele Neben Informations-Kampagnen will ich Unternehmen motivieren, sowohl unter den Dax-30-Firmen als auch unter den kleinen und mittleren Betrieben, zu zeigen, wie gut die berufliche Inklusion klappt. Auch Menschen mit Behinderung können dazu beitragen den Fachkräftemangel zu lindern.

Wir haben erstmals eine Behindertenbeauftragte, die selbst blind ist. Was sind Ihre ersten Erfahrungen?

Bentele Sie sind sehr positiv. In der Bundesregierung erlebe ich eine große Gesprächsbereitschaft. Meine Meinung ist gefragt, das ist eine gute Sache. Ich kann mich mit meiner Erfahrung und meinem Wissen für Menschen mit Behinderung einsetzen. Ich erfahre gerade selbst, wie Inklusion auf dem Arbeitsmarkt gelingen kann, wenn eine gute personelle Unterstützung und die entsprechenden Hilfsmittel vorhanden sind.

War für die verbesserte Wahrnehmung auch die breite Berichterstattung über die Paralympics hilfreich?

Bentele Sport ist immer ein Vorbild, und im Sport wird deutlich, was Menschen mit Behinderung alles machen können. Das habe ich ja selbst mit Biathlon zeigen können. Das ist ein gutes Beispiel auch für die Arbeitswelt: Zeigen, was Menschen mit Behinderung in der Lage sind zu leisten. Man muss es nur organisieren.

Gregor Mayntz führte das Interview

(may-)
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