Interview mit Grünen-Spitzenkandidat Jürgen Trittin "Wir müssen 50.000 Syrer aufnehmen"

Düsseldorf · Im Gespräch mit unserer Redaktion fordert Jürgen Trittin, Spitzenkandidat der Grünen, eine Umkehr in der Flüchtlingspolitik und rückt die CDU in die Nähe der rechtspopulistischen AfD. Vom Umfragetief der Grünen, will er sich nicht nervös machen lassen.

Die Grünen, einst Umfragestars in der Mitte der Legislaturperiode, sind inzwischen bei einem Jahrestief von zehn Prozent angelangt. Beunruhigt Sie das?

Trittin In Umfragen spiegeln sich momentane Stimmungen von Befragten wider. Entscheiden tun sie an der Urne, nicht am Telefon.

Pech nur, dass in elf Tagen gewählt wird.

Trittin Ja, in elf Tagen. Es gibt immer noch viele unentschlossene Wähler, einige Parteien sind überschätzt, andere unterschätzt.

Welche anderen Parteien werden unterschätzt?

Trittin Die jüngste Umfrage sieht etwa die FDP nicht mehr im Bundestag. Das fände ich zwar nicht schade, wird aber nicht eintreten. Dass sie jetzt so heruntergestuft wird, hat nur den Effekt, dass viele schwarze Wähler ihr Kreuz doch noch bei der FDP machen. Denken Sie an die Landtagswahlen in NRW und Niedersachsen, wo genau das passiert ist.

Wie bewerten Sie die euro-kritische Alternative für Deutschland (AfD)?

Trittin Die sind schwer einzuschätzen. Wir wissen, dass sich viele Menschen in Umfragen nicht zu rechtspopulistischen oder gar rechtsextremen Parteien bekennen, sie dann aber doch wählen.

Die Union schweigt die AfD tot. Ist das die richtige Strategie?

Trittin Frau Merkels Königsdisziplin: Sie hat jedenfalls auf die Frage, ob sie sich von der europakritischen und in ihren Wahlspots klar rechtspopulistischen AfD tolerieren lasse, keine Antwort gegeben. Keiner weiß also, ob die Bahama-Koalition vor der Tür steht. Viele Unionswähler teilen die Positionen der AfD, auch etliche Bundestagsabgeordnete von CDU/CSU und FDP.

Wie bitte?

Trittin Sie haben es durch ihr Abstimmungsverhalten im Bundestag dokumentiert. Frau Merkel hatte deswegen für die Euro-Rettungspakete keine Kanzler-Mehrheit und war auf SPD und Grüne angewiesen.

Sind die Abgeordneten Schäffler (FDP), Bosbach (CDU) und Peter Gauweiler (CSU) rechtspopulistisch?

Trittin Die sind nicht rechtspopulistisch, aber anti-europäisch.

Man kann bei den Rettungspaketen für Griechenland und andere Staaten durchaus geteilter Meinung sein, ohne die EU abzulehnen.

Trittin Bei den Abweichlern schwingt aber immer ein antieuropäischer Tonfall mit. Sie nehmen einen Zerfall der EU in Kauf, in dem sie Länder wie Griechenland lieber bankrott gehen lassen.

Sind die nicht Außenseiter in ihren Fraktionen?

Trittin Nein, denn dieses Verhalten geht hinauf bis in die Führungspositionen. Unionsfraktionschef Volker Kauder meint: Europa spricht jetzt deutsch, Europa muss sparen, bis es quietscht, der Grieche liegt nur noch in der Sonne. Mit solchen Äußerungen werden dumpfe Ressentiments geweckt.

Sie haben versprochen, die Bürger bei den Energiekosten zu entlasten, wie soll das konkret funktionieren?

Trittin Wir wollen vor allem dafür sorgen, dass Häuser besser isoliert werden. Wir geben unglaublich viel Geld für Wohngeld und Heizkostenzuschüsse für Geringverdiener und Hartz-IV-Empfänger aus, weil die Menschen in schlecht isolierten Wohnungen leben.

Eine Durchschnittsfamilie zahlt pro Monat rund 100 Euro an Strom. Um wie viel sollen die entlastet werden?

Trittin Wirtschaftsminister Brüderle hat die Höhe der EEG-Umlage um 300 Prozent gesteigert, während die erneuerbaren Energien im selben Zeitraum nur um 50 Prozent gewachsen sind. Das treibt die Strompreise in die Höhe. Wir wollen die Ausnahmen bei der EEG-Umlage wieder auf die Zeit vor Schwarz-Gelb reduzieren. Dann würde die EEG-Umlage auch um vier Milliarden Euro entlastet. Für einen privaten Haushalt mit vier Personen und einem durchschnittlichen Stromverbrauch bedeutet dies eine Entlastung von jährlich rund 50 Euro.

Welche Betriebe sollen keine Ausnahme mehr bekommen?

Trittin In meinem Wahlkreis etwa müssen Textilhändler wie C&A oder S'Oliver die Netzumlage nicht voll zahlen. Dafür gibt es keinen vernünftigen Grund.

Wie wollen Sie die Grenze ziehen?

Trittin Vernünftig sind Ausnahmen bei der EEG- und der Netz-Umlage nur für solche Unternehmen, die energieintensiv sind und im internationalen Wettbewerb stehen. Dieses Kriterium gilt für Aluhütten und Stahlwerke, sie werden zu Recht entlastet. Handelsunternehmen oder auch Schlachthöfe sind aber nicht energieintensiv, sie müssen nicht länger von den Umlagen befreit werden. Wir wollen die Zahl der Ausnahmen wieder auf unter 1000 begrenzen.

Syrien ist nun doch bereit für die Kontrolle der Chemiewaffen. Ein Erfolg für Obama, der mit einem Militärschlag gedroht hatte?

Trittin Es ist immer ein Erfolg, wenn verhandelt und nicht geschossen wird. Doch tatsächlich ist ein Militärschlag keine Option, um ein Einlenken zu erzwingen. Ein Diktator wie Assad fängt nicht an zu denken, nur weil noch mehr Syrer umkommen.

Was würden Sie tun?

Trittin Eine Verletzung der völkerrechtlichen Regeln muss mit den Mitteln des Völkerrechts verantwortet werden. Zudem muss die internationale Gemeinschaft ihren humanitären Pflichten nachkommen.

Wie viel Flüchtlinge soll Deutschland aufnehmen?

Trittin Als erstes sollte Deutschland allen hier lebenden Syrern erlauben, ihre Verwandten nachzuholen. Damit könnten schon einmal 50 000 kommen. Als größtes Land der EU sind wir verpflichtet, die meisten Flüchtlinge aufzunehmen.

ANTJE HÖNING, MARTIN KESSLER UND EVA QUADBECK FASSTEN DAS GESPRÄCH ZUSAMMEN

(qua)
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