Protestpartei auf dem Vormarsch Münster - die Hauptstadt der Piraten

Münster (RPO). Die Piratenpartei ist für manchen Wähler noch ein Buch mit sieben Siegeln. Das dürfte sich bald ändern: Die Bewegung hat einen riesigen Zulauf und ist dabei, sich in der deutschen Parteienlandschaft zu etablieren. Bei der Kommunalwahl in NRW gelang erstmals der Einzug in zwei Stadtparlamente. Das beschauliche Münster ist ein Beispiel für den Vormarsch der Piraten.

Die Piratenpartei
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Foto: ddp

Münster ist eine Metropole mit Tradition. Im Herzen der Stadt liegt der Prinzipalmarkt mit dem historischen Rathaus, in dem der Westfälische Frieden einst den 30-jährigen Krieg beendete. Jetzt ist Münster wieder Teil einer Revolution, wenn auch deutlich kleiner als das epochale Ereignis von 1648. Die Stadt ist die Keimzelle einer möglichen politischen Umwälzung in Deutschland. Marco Langenfeld (Foto) verkörpert diesen sich anbahnenden Umbruch. Der 22-jährige Kfz-Mechatroniker, groß und schlaksig, wählt seine Worte mit Bedacht, wirkt fast etwas schüchtern für einen Politiker. Langenfeld ist seit den NRW-Kommunalwahlen der Pirat in Münsters Stadtrat - und das, ohne eine einzige Programmiersprache zu beherrschen.

1990 Stimmen reichten aus, um den bis dahin politisch weitgehend unbefleckten Mann ins Rampenlicht und in das altehrwürdige Rathaus zu katapultieren. "Anfangs war mir schon mulmig", gibt Langenfeld, der noch bei seinen Eltern wohnt, unumwunden zu. In der letzten Woche war er sehr beschäftigt, die Medien standen für Interviews Schlange. Nun beginnt die politische Arbeit, er müsse sich erst einmal in die verschiedenen lokalpolitischen Themen einarbeiten.

Fest steht: Zeit zum Ausruhen hat er nicht. Der designierte CDU-Oberbürgermeister Markus Lewe, der die Piraten im Wahlkampf noch als "realitätsfern" bezeichnete, hat in seiner Wunschkonstellation mit der FDP keine eigene Mehrheit — da kommt es auf jede Stimme an. "Die CDU hat sich beim Wahlamt bereits nach meiner Handynummer erkundigt", sagt Langenfeld mit einem Lächeln. In dieser Woche sollen mit allen Parteien Gespräche stattfinden.

Kommunalpolitik als Ernstfall

Jens Seipenbusch ist der Bundesvorsitzende der Piratenpartei. Auch der IT-Experte der Uni Münster kommt aus der westfälischen Piraten-Hochburg, wo sich die Partei auf dem lokalpolitischen Parkett beweisen muss. Seipenbusch ist überzeugt, dass die klassischen Themen der Piraten auch in den Kommunen relevant sind: "Datenschutz, informationelle Selbstbestimmung und Transparenz sind unsere thematischen Hauptfelder — aber auch die kann man auf die kommunale Ebene herunterbrechen."

So wollen die Piraten die Videoüberwachung auf öffentlichen Plätzen verhindern. Das Loch im städtischen Haushalt soll unter anderem durch den Einsatz von kostenfreier Open-Source-Software in der Stadtverwaltung verringert werden. Eine stärkere Einbindung der Bürger in die politischen Prozesse sei ebenfalls vonnöten. "Basisdemokratie ist uns sehr wichtig. Die Menschen sollen mitentscheiden können, wofür Geld ausgegeben und gespart wird", fügt Langenfeld an.

Und andere große Themen? Das neue Stadtbad im Süden? Die Erhöhung der Gewerbesteuer? Die Piraten lassen in ihrem Programm und im Interview viele Felder und Fragen offen. "Man kann Sachentscheidungen nicht vorausplanen. Unser Interesse ist, im Stadtrat nicht in einen Block einzutreten, sondern sach- und nicht lagerbezogen zu entscheiden", stellt Seipenbusch klar. Über das Abstimmungsverhalten wollen die Piraten in Münster gemeinsam befinden, vielleicht sogar ein Forum für Bürger einrichten. Inhaltlich, sagt Seipenbusch, bestehen die größten Überschneidungen mit den Grünen und der SPD. Aber: "Wir wollen beweisen, dass wir Realpolitik können und uns über die Netzpolitik hinaus entwickeln."

Starthilfe aus Berlin

Inwieweit dies gelingt und die Partei eigene Akzente setzen kann, wird sicherlich über den weiteren Erfolg entscheiden. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Piraten sich erst im Vorfeld der letzten Europawahl ansatzweise aufgestellt haben und aus dem Stand 0,9 Prozent holten. Vieles hat bei den Piraten noch provisorische Anhaftungen. Langenfeld selbst ist der Bewegung erst im Mai beigetreten. Das "Zugangserschwerungsgesetz" von Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) gab den Ausschlag. Die Ministerin wollte Internetseiten mit kinderpornografischen Inhalten sperren. Allerdings lasse sich diese Sperre leicht umgehen, kritisieren die Piraten. Sie fürchten eher die Förderung der Kinderpornografie und einen Einstieg in die Internetzensur. Die Pläne von der Leyens, in Piratenkreisen auch "Zensursula" genannt, und das Abschneiden bei der Europawahl haben der Piratenpartei Auftrieb gegeben.

Im Juni, auf dem Rückweg von einer Demonstration gegen das umstrittene Gesetz, kam dem Stadtverband Münster schließlich die Idee, auch bei der Kommunalwahl anzutreten. "Das war eine Hau-Ruck-Aktion", erinnert sich Langenfeld. Eine Woche später wurden die Kandidatenlisten in geheimer Wahl aufgestellt und die notwendigen Unterschriften gesammelt, das Wahlprogramm kam im Schnellverfahren dazu. Ein Blick auf das Ergebnis bei der Europawahl zeigte Langenfeld, dass es in Münster für den Einzug ins Stadtparlament reichen könnte: "Wir hatten eine leichte Vorahnung, dass es klappt." Das war nicht nur in der Domstadt, wo die Piraten in rund der Hälfte der Bezirke antraten und auf 1,6 Prozent der Stimmen kamen, sondern auch in Aachen mit 1,77 Prozent der Fall. Hier sitzt künftig der 22-jährige Thomas Gerger im Stadtrat.

Wohlgemerkt: Die Piraten sind in NRW nur in diesen beiden Städten angetreten. Die Kommunalwahl als Fanal für den Siegeszug der Piraten? Sicherlich ist die Bevölkerung in den beiden Städten für die Anwerbung durch die Piraten besonders empfänglich. Münster und Aachen sind traditionelle Universitätsstädte mit einem hohen Anteil an internetaffinen Studenten und einem ausgeprägten Bildungsbürgertum. Die Grünen holen hier regelmäßig rund 20 Prozent. "In den mittleren Universitätsstädten sind wir besonders stark", sagt Seipenbusch. Aber nicht nur dort: Ein Blick nach Sachsen zeigt, dass die Piratenpartei auch auf Landesebene auf dem Vormarsch ist. Bei den Landtagswahlen holten die Piraten dort 1,9 Prozent — bei den Europawahlen im Juni waren es noch 1,1 Prozent gewesen. Im Saarland und in Thüringen traten die Piraten nicht an.

Potenzial nicht ausgeschöpft

Das Potenzial der Piraten ist also bei weitem nicht ausgeschöpft. Anfang Juni hatte die Partei noch rund 1400 Mitglieder, inzwischen sind es mehr als 7000. "Die Jüngeren sind überproportional auf unserer Seite. Da wächst eine richtige Generation heran", freut sich Seipenbusch. Für Menschen unter 30 ist Netzpolitik ein wichtiges Thema. Ein Großteil dieser Gruppe, zunehmend mit steigendem Bildungsniveau, verbringt täglich mehrere Stunden im Internet. Und: Wer in den 90er Jahren sozialisiert wurde, verfügt nicht über die traditionellen Parteibindungen der älteren Semester.

Die etablierten Parteien decken die für diese Generation relevanten Netz-Themen nicht ab — und wenn, dann bleibt es bei verkrampft wirkenden Versuchen. Hinzu kommt der Verdruss über die etablierten politischen Akteure, den die Piraten mit ihrem werbewirksamen Slogan "Klarmachen zum Ändern" aktiv ansprechen. "Die Ideenlosigkeit der Altparteien lähmt unser Land", betont Seipenbusch.

Aber ist mit den Piraten wirklich zu rechnen? Schon bei der Bundestagswahl? "Wir sind im Aufwind. Fünf Prozent sind möglich", gibt sich der Ober-Pirat optimistisch. Die Umfragen sind etwas pessimistischer, sehen die Polit-Newcomer zwischen zwei und drei Prozent. Am 27. September werden die Piraten im Gegensatz zu den letzten Urnengängen in fast allen Bundesländern und damit flächendeckend auf den Wahlzetteln stehen. Und mit den ersten kleinen Wahlerfolgen kommt Geld in die Parteikasse, Kampagnen und Plakate können zunehmend finanziert werden. Das Geld könnte auch genutzt werden, um vor der nächsten Europawahl gegen die Fünf-Prozent-Hürde zu klagen. Entsprechende Überlegungen gibt es.

Selbst wenn es bei der Bundestagswahl nicht auf Anhieb reichen sollte, die nächste Chance der Piraten wird nicht lange auf sich warten lassen. Im Frühjahr 2010 sind Landtagswahlen in NRW. In dem Bundesland mit den bevölkerungsreichen Metropolen und vielen Hochschulen stehen die Chancen — zumindest auf dem Papier — so gut wie in keinem anderen Bundesland. Allerdings wird Marco Langenfeld bis dahin beweisen müssen, dass das Modell der Piratenfestung Münster funktioniert.

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