Bundestagswahl 2017 So stehen Obdachlose zur Wahl

Berlin · Menschen, die täglich um Essen und einen Platz zum Schlafen kämpfen müssen, machen sich unter Umständen um andere Dinge Gedanken, als an welcher Stelle man sein Kreuzchen macht - oder ob man überhaupt bei der Bundestagswahl abstimmt.

"Die Unsichtbaren": Obdachlose berichten aus ihrem Leben
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Obdachlose berichten aus ihrem Leben

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Foto: Reto Klar / Berliner Morgenpost

Der ganz große Andrang ist vorbei, aber der "Warme Otto" ist an diesem Sommertag auch nach dem Mittag noch gut gefüllt. Zwei Dutzend Leute sitzen an Holztischen, trinken Tee, lesen Zeitung oder würfeln. Durch den schmucklosen Raum, der früher eine Eckkneipe beherbergte, wabert noch Essensgeruch. Spaghetti Bolognese gab es heute. "Das war diese Woche das Festessen", sagt Bodo Burger. An den anderen Tagen wird Suppe gereicht. "Warmer Otto" - das ist eine Tagesstätte für Wohnungslose in Berlin-Moabit. Menschen wie Burger, Menschen ohne feste Bleibe können hier nicht nur essen, sondern auch mal Haare oder Klamotten waschen, im Internet surfen, Rat bei Sozialarbeitern suchen, sich ausruhen. Oder über Politik reden.

"Die Merkel baut doch nur Scheiße", erregt sich Burger, als er nach dem Mahl bei einer Tasse Kaffee eine Boulevardzeitung durchblättert. Durch die vielen Flüchtlinge, ist sich der 54-Jährige sicher, habe die Kriminalität zugenommen. Wohnen sei unerschwinglich, und der Drogenhandel greife immer mehr um sich. "Ich geh' auf jeden Fall zur Bundestagswahl", sagt Burger entschlossen. Deshalb informiere er sich. "Ich schaue, was die so für Ziele haben. Für mich muss die Innere Sicherheit im Vordergrund stehen."

Otto Normalbürger bekommt die Wahlunterlagen für den 24. September per Post zugeschickt. Bei wohnungs- oder obdachlosen Menschen, die oft weder in den Melderegistern eingetragen sind noch eine feste Adresse haben, ist das nicht so. Doch auch sie dürfen bei der Wahl ihre Kreuzchen machen, sofern sie deutsche Staatsbürger sind.

Obdachlose müssen Initiative ergreifen

Voraussetzung: "Bis 3. September müssen sie ihre Aufnahme ins Wählerverzeichnis und einen Wahlschein beantragen", erläutert Bundeswahlleiter Dieter Sarreither. Und zwar beim Wahlamt des Ortes oder Stadtbezirks, in dem sie sich üblicherweise aufhalten. Dann können sie entweder gleich vor Ort oder auch später im Wahllokal abstimmen. Die Ausübung des Wahlrechts "aller wahlberechtigten Personen gleichermaßen" sei eines der wichtigsten Elemente des demokratischen Rechtsstaats, so Sarreither.

Prognose für 2018: Über 500.000 Obdachlose

Wie viele Menschen in Deutschland auf der Straße, in Übergangsheimen oder anderen temporären Unterkünften leben, ist nicht bekannt - in einem Land, in dem sonst alles statistisch erfasst wird. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe schätzte ihre Zahl für 2014 auf 335.000 und geht gleichzeitig davon aus, dass es 2018 bereits 536.000 sein werden - Tendenz also stark steigend.

Auch in Berlin: 5000 bis 8000 Obdachlose machen hier nach Schätzungen der Landesarmutskonferenz "Platte", leben also im Freien, campieren unter Brücken, in Unterführungen oder Abrisshäusern. Hinzu kommen 20.000 Menschen, die keine eigene Bleibe, aber zumindest ein Dach über dem Kopf haben.

In den "Warmen Otto" kommen Menschen aus beiden Gruppen, darunter viele aus osteuropäischen Staaten, die in Berlin gestrandet oder - gemessen an ihren Hoffnungen - gescheitert sind. "Sicher, das Thema Wahlen ist bei vielen unserer Gäste nicht das Hauptanliegen", sagt Karsten Krull, einer der Sozialarbeiter. "Aber ich versuche schon, die Menschen zu animieren, zur Wahl zu gehen." Es sei einfach wichtig, dass sie sich Gehör verschafften.

Etliche Betroffene tun das tatsächlich - trotz oder gerade wegen ihrer persönlichen Lage. In Berlin beispielsweise nahmen an der letzten Bundestagswahl vor vier Jahren 122 Obdachlose teil, weiß Geert Baasen von der Landeswahlleitung zu berichten. Bundesweite Zahlen gibt es nach Angaben Sarreithers nicht.

Um Menschen aus schwierigen Lebensumständen mit politischen Vertretern zusammenzubringen, organisiert die Landesarmutskonferenz in Berlin die Reihe "Wir kommen wählen!". Die Idee: Politiker gehen zu den Menschen, etwa Obdachlosen, um mit ihnen in kleinen Gruppen über ihre Sorgen und Nöte zu sprechen. "Es ist wichtig für diese Menschen, dass sie erfahren, dass ihnen überhaupt mal jemand zuhört", sagt Kirstin Wulf von der Armutskonferenz. Viele seien politikmüde, wütend, frustriert, enttäuscht: "Da hat sich einiges angestaut."

"Um Leute wie uns kümmert sich ja doch keiner"

So wie bei Hans-Georg Schottenhaml und anderen Wohnungslosen, die vor dem "Warmen Otto" rauchen und einen Schwatz halten. "Warum sollte ich wählen gehen", fragt der 61-jährige frühere Binnenschiffer. "Um Leute wie uns kümmert sich ja doch keiner." Ein anderer mokiert sich über Zuwanderer, die bei vielen hier Ängste auslösen, in der Warteschlange vor der Essensausgabe oder bei der Suche nach einem Notquartier ganz reale Konkurrenz sind. "Die kommen aus Osteuropa oder so hierher und denken, hier ist das Schlaraffenland." Ein dritter sagt: "Man will mit uns nichts zu tun haben." Aber er wolle sich am 24. September Gehör verschaffen: "Meine Kalaschnikow ist der Stimmzettel."

(felt)
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