Bundestagswahl Mehr Stammtische braucht das Land

Stammtischparolen – das Wort hat einen negativen Beigeschmack. Aber was wird an Stammtischen überhaupt geredet? Und warum ist das so wichtig? Ein Besuch in Kneipen im Ruhrgebiet, in Oberbayern und in Sachsen-Anhalt.

 Franz am Stammtisch auf der Biberger Alm in Oberbayern.

Franz am Stammtisch auf der Biberger Alm in Oberbayern.

Foto: Olaf Ziegler

Stammtischparolen — das Wort hat einen negativen Beigeschmack. Aber was wird an Stammtischen überhaupt geredet? Und warum ist das so wichtig? Ein Besuch in Kneipen im Ruhrgebiet, in Oberbayern und in Sachsen-Anhalt.

Franz wartet. Er sitzt allein am großen Holztisch in der Wirtschaft, den Blick aufs Maxlrainer-Bier gerichtet. Der Tisch mit dem Metallschild "Stammtisch" ist der größte auf der Biberger Alm in der Gemeinde Tuntenhausen, Oberbayern. Franz sitzt hier jeden Tag. 54 Jahre alt, Vollbart, krause Haare — ein Urbayer, geboren im 200-Seelendorf Biberg, wo die Alm die einzige Wirtschaft ist.

Überall in Deutschland treffen sich Menschen an Stammtischen und reden. Übers neue Auto, den neuesten Klatsch. Und Politik. Stammtischparolen — das Wort hat einen negativen Beigeschmack. Doch: "Wenn man die Distanz zwischen der Lebenswelt und der politischen Welt überwinden will, muss man Stammtische anzapfen", sagt der Dresdener Politikwissenschaftler Prof. Dr. Hans Vorländer. Aber was wird an deutschen Stammtischen geredet? Und warum ist das für die Politik so wichtig? Drei Stammtische, drei lokale Biersorten, drei Menschenschläge.

Am Montag gibt es im Haus Gammler im Essener Norden gleich zwei Stammtische. An beiden Stammtischen im Haus Gammler in Altenessen sitzen nur Frauen. Einmal im Monat kommen Spielerfrauen, jede Woche trifft sich der Sparclub. Heute sind es sechs Frauen. Karin hat wie die anderen ein Stauder-Pils bestellt, 1,30 Euro kostet es. Bis November hat sie noch zwei- bis dreimal die Woche hinter der Fleischtheke gearbeitet, auf 400-Euro-Basis, da war sie schon 71. Die Rente hat nicht gereicht. "100 Euro Lohn wurden von der Rente abgezogen, 70 Euro musste ich Fahrgeld zahlen, 230 blieben übrig", erzählt sie. Jetzt schafft sie den Job nicht mehr. Seit zwölf Jahren ist Karin Witwe. Der Stammtisch ist für sie sozialer Anker: "Wenn man den ganzen Tag allein zu Hause sitzt, ist das hier einfach schön."

Die Trennlinie zwischen Arm und Reich verläuft in der Ruhrgebietsstadt zwischen Nord und Süd, scharf markiert durch die A40. Hier gibt es günstigen Wohnraum, sind die Fassaden manchmal bunt gestrichen und doch grau, sind die sozialen Belastungen ungleich höher als im Süden. Der Norden ist auch das Revier von Ex-Bergmann Guido Reil, der 26 Jahre für die SPD antrat und bei der NRW-Landtagswahl für die AfD bis zu 22 Prozent holte.

An der Theke diskutiert Landschaftsgärtner Enrico (46). "Man braucht mehr Leute, die den Menschen zuhören", findet er, "sonst wird die AfD zu stark." Mehr Polizisten brauche das Land, dann könne man sich "noch mehr reinholen", sagt er — und meint die Flüchtlinge. "Früher hatte ich nie Angst", sagt Christa (72), "heute schon." Ihre Stammtischschwestern relativieren: "Wer in der Bahn aufsteht, das sind immer die jungen ausländischen Männer, nie die Deutschen", sagt Erika. Elsbeth erinnert an das Sommerfest des Flüchtlingslagers um die Ecke: "Alle Anwohner waren zum Essen eingeladen, und da war alles spitze", sagt sie. Enrico diskutiert derweil mit einem anderen Stammgast: "Warum besorgen die sich alle zuerst ein Messer?" Die — das sind wieder die Flüchtlinge. Enrico winkt ab, sagt: "Mach mal halblang." Der Andere zieht ab. Er hat gesagt, was ihm auf der Seele brennt. Was er nicht versteht, wo sein Weltbild zwischen Flüchtlingskrise und kriminellen Libanesen-Clans ins Wanken kommt.

"Man trifft sich, trinkt ein Bier und wird quasi gereinigt. Man lässt den Dampf aus dem Kessel. Erst kocht er hoch — dann ist es wieder gut", erklärt Hans Vorländer. Das Problem: Stammtische gibt es immer weniger. "Wir haben keine Orte mehr, wo man geschützt Zorn und Wut ablassen kann", sagt der Wissenschaftler. Daher werde etwa der Stammtisch bei Pegida-Demos auf die Straße verlagert. Immer noch gehen jeden Montag in Dresden Tausende auf die Straße, "um die Seele frei zu schreien", wie Vorländer das nennt. Zu DDR-Zeiten waren Stammtische verpönt, in Wirtshäusern frei zu reden war unmöglich. Stets konnte ein Spitzel lauern.

Wie in Quedlinburg, Sachsen-Anhalt, Landkreis Harz, der mit der geringsten Wahlbeteiligung Deutschlands bei der Bundestagswahl 2013. Ein Schild im "Wispel-Pub" verspricht Essen "wie in den 80er Jahren für kleines Geld. Spezialität ist ein mit Würzfleisch überbackenes Schnitzel. Alle 14 Tage treffen sich die Schwimmmeister und ihre Freunde zum Stammtisch, trinken Hasseröder. "Die haben uns verkauft", sagt Rolf (63), der sonst den ganzen Abend nichts sagt. Der Zusammenbruch der DDR, er kam auch für Quedlinburg zu schnell. Zigtausende Menschen verloren ihre Jobs, Großbetriebe wie das Eisenhüttenwerk, der Saat- und Pflanzgutbetrieb, die LPG — alles dicht. "Wenn Opel in Bochum zumacht und die von 3600 verlorenen Arbeitsplätzen reden, da lachen wir nur", sagt Holger (53). "Natürlich haben wir ein bisschen Mitleid", meint Kalle (63). Aber eben nur ein bisschen. Wenn die Männer von der Wende erzählen, von Zigtausenden, die plötzlich vor dem Nichts standen, dann ist das große Trauma zu erahnen, das immer noch die Grenze zwischen Ost und West markiert. Vielleicht ist es dieses große Gefühl der Fremdbestimmtheit, das noch heute dazu führt, dass in Quedlinburg wenige zur Wahl gehen.

"Für Politik und Parteien war es immer wichtig, einen Fuß in die Stammtische zu bekommen, zu hören, was der Bürger tatsächlich sagt", erklärt Vorländer. Die "Lufthoheit über den Stammtischen" ist ein geflügeltes Wort. Der Bürgermeister aus Tuntenhausen schaue regelmäßig beim Stammtisch auf der Biberger Alm herein, erzählt Franz, der 54-jährige Schreiner aus Biberg. Auch manch nichtöffentlicher Teil der Gemeinderatssitzung ist Thema am Holztisch. An dem sitzen jetzt auch Hans (54) und Sebastian (22) aus den Nachbarorten. Zum Stammtisch kommen auch die Ortsansässigen aus den umliegenden Dörfern, längst nicht mehr alle haben eine Wirtschaft.

Biberg in Oberbayern gehört zur Gemeinde Tuntenhausen, bekannt durch den konservativ-katholischen Männerverein. Das Dorf hat 200 bis 300 Einwohner, keine Schule, keinen Kindergarten, keinen Supermarkt. Gewählt wird bei Bundestagswahlen die CSU. "Wir haben ja keine Wahl", sagt Hans, der Steuerungselektroniker. Die CSU vertrete bayrische Interessen in Deutschland — was soll man sonst wählen? "Bei der Landtagswahl, da ist das was anderes." Sebastian ist überzeugter Anhänger der Ehe für Alle, liebäugelte mal mit den Grünen — aber wählen, nun ja, wählen tut er die dann doch nicht. "Sie sind mir zu extrem." Das Wort "Veggie-Day" wirkt in einem bayrischen Wirtshaus wie vom anderen Planeten.

Am Stammtisch wird alles besprochen und geregelt, was das Dorf bewegt: von der geschlossenen Hebammenstation in der Stadt, über eine Reichsbürgerfamilie bis zur Erkundung des Mars. Gestritten werde nur, "wenn irgendeiner einen Schmarrn erzählt", knurrt Franz. Ganz so ist es aber wohl doch nicht. Vor allem bei den Diskussionen um die Reichsbürgerfamilie geht es hoch her. "Es gibt Leute, die sagen bis zum zweiten Bier nix, aber ab dem fünften wird es lauter", sagt Sebastian. "Das ist, als wenn's Dich auf null setzt, und dann gehst entspannt nach Haus", meint Hans. In der Literatur und der Psychologie gibt es dafür ein Wort: Katharsis, die Läuterung der Seele, die Befreiung von seelischen Konflikten durch emotionale Verarbeitung. Mehr Stammtische braucht das Land.

Die Autorin ist Redakteurin der Ruhr Nachrichten.

Wie geht es Deutschland vor der Wahl? Mit dieser Frage im Gepäck haben wir Reporterinnen und Reporter losgeschickt, um Deutschland den Puls zu fühlen. Herausgekommen ist ein Deutschland-Essay. Aufschlussreiche Geschichten aus dem Inneren der Republik. Alle Themen aus dem Projekt Deutschland-Essay 2017 finden Sie hier.

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