Interview mit Aktivist Tadzio Müller "Bisschen mehr Gleichheit in grundsätzlich ungleichem System"

Düsseldorf/Berlin · Tadzio Müller hat die Debatte um die Öffnung der Ehe jahrelang in den Bars und Kneipen der queeren Szene in Berlin verfolgt. Für ihn ist die Ehe für alle zwar ein Sieg - die Homophobie sei damit jedoch noch lange nicht abgeschafft.

 Tadzio Müller (40) arbeitet für die Rosa-Luxemburg-Stiftung als Klimareferent.

Tadzio Müller (40) arbeitet für die Rosa-Luxemburg-Stiftung als Klimareferent.

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung

Mit der Ehe für alle ist es wie mit dem Atomausstieg, findet Tadzio Müller: Sie sei ein Erfolg für alle Aktivisten, die sich teils seit Jahrzehnten dafür eingesetzt haben. Sie sei aber keine Lösung für strukturelle Probleme — im Energiesektor wie in Bezug auf die Akzeptanz "queerer" Lebensformen. "Diskriminierung ist genauso dumm wie Atomkraft", sagt Müller. Der 40-Jährige ist Politikwissenschaftler und engagiert sich seit Jahren in der linken Klimabewegung. In NRW ist er vor allem im Anti-Braunkohle-Protest aktiv. Für die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin arbeitet Müller als Klimareferent.

Die Debatte über die Ehe für alle hat Müller jedoch nicht aus der politischen Perspektive verfolgt, sondern hauptsächlich in den Berliner Bars und Kneipen der "queeren" Szene. Als "queer" bezeichnen sich sowohl Schwule, Lesben als auch Bisexuelle und Transgender. Müller selbst ist schwul.

Herr Müller, Sie haben kürzlich in einem Interview das Konzept der Ehe in Frage gestellt. Warum?

Tadzio Müller Um einen Vergleich zu bemühen: Die Ehe für alle einzuführen, ist ungefähr so, wie Frauen zu erlauben, den Führerschein zu machen — ein Jahr, bevor Autos obsolet werden. Um es kurz zu sagen, die Debatte ist ein bisschen retro, etwas passé.

Das heißt, kein Menschen braucht die Ehe?

Müller Verstehen Sie mich nicht falsch, ich möchte das gar nicht kleinreden. Ich selbst gehöre zwar nicht zu den Schwulen, die ihren Partner heiraten wollen. Ich kenne aber einige, die das gerne möchten. Und das sollen sie gerne tun dürfen. Natürlich ist die Abstimmung heute ein Erfolg. Es gibt jetzt ein bisschen mehr Gleichheit, aber eben in einem grundsätzlich ungleichen System.

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Sie meinen, es gibt weiterhin Alltagsdiskriminierung von Homosexuellen?

Müller Natürlich gibt es die. Aber noch etwas anderes ist wichtig bei der Diskussion über die Ehe für alle: Queer bedeutet nicht, dass wir so sein wollen wie ihr. Es geht darum, die Gesellschaft weiter für andere Formen von Beziehungen und Familien zu öffnen. Im Moment wird ja viel über die Rechte von Transmännern und -frauen gesprochen.

Aber mit der Ehe ist auch ein Schritt in diese Richtung gemacht worden. Schließlich könnten verheiratete gleichgeschlechtliche Paare nun gemeinsam Kinder adoptieren...

Müller Nochmal. Die Entscheidung ist ein Erfolg. Dass wir diesen Erfolg einem wahltaktischen Manöver zu verdanken haben, ist mir übrigens egal. Man nimmt, was man kriegt. Ich sehe nur die Gefahr, dass die Menschen glauben, dass Homosexuelle nun wirklich gleichgestellt sind, dass nun die Homophobie abgeschafft wurde. Die Gefahr ist, dass man das Gesetz für einen weitergehenden Sieg hält, als er tatsächlich ist.

Aus der queeren Szene gibt es auch Stimmen, die die Ehe als heteronormative Institution ablehnen. Heteronormativ heißt in dem Zusammenhang, dass die Ehe immer noch als die bessere Beziehungsform betrachtet wird.

Müller Eine Art politischer Purismus ist in der queeren Szene verbreitet. Dahinter steckt die Auffassung, dass die Wünsche und Bedürfnisse an ein falschen Bewusstsein gekoppelt sind, das vom gesellschaftlichen Mainstream geformt wird. Ich halte davon nicht sehr viel, anderen Menschen vorzuschreiben, was sie sich wünschen dürfen. Es gibt natürlich Menschen mit einer radikaleren, queereren Agenda. Aber wer heiraten will, soll auch heiraten dürfen.

(heif)
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