Interview mit der Präsidentin des Bundesgerichtshofs "Die Justiz wartet nicht auf neue Aufgaben"

Düsseldorf · Die Präsidentin des Bundesgerichtshofs, Bettina Limperg, warnt im Interview mit unserer Redaktion vor einer Überlastung der Gerichte und vor Zweifeln am Rechtsstaat.

 Bettina Limperg im Foyer des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

Bettina Limperg im Foyer des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

Foto: dpa

Den Bundesgerichtshof am Rande der Innenstadt könnte man übersehen, so unscheinbar liegt er da. Hinter einem immensen Springbrunnen liegt das Palais, der älteste Teil des Gerichts. Dort empfängt die Präsidentin mit einigen Akten in der Hand.

Frau Limperg, ist der Rechtsstaat ein Auslaufmodell?

Limperg Nein, ganz im Gegenteil. Uns wird gerade wieder intensiv bewusst, was wir ohne den Rechtsstaat wären: nämlich verloren. Die Entwicklungen in unserem Nachbarland Polen, aber etwa auch in der Türkei zeigen uns, dass wir ohne den Rechtsstaat keine verlässliche Grundlage haben. Unser gesamtes System des demokratischen Rechtsstaats, der Gewaltenteilung beruht auf der Herrschaft des Rechts. Und sicherlich gibt es auch in den USA manche Äußerungen, die nachdenklich machen.

Beunruhigen Sie die Entwicklungen in Polen und Ungarn? Sie deuten es ja an, auch der US-Präsident scheint keinen besonderen Wert auf die Gewaltenteilung zu legen.

Limperg Die USA sind ein Rechtsstaat. Auch Polen ist ein verfasster Rechtsstaat, aber wir sehen hier bedenkliche Entwicklungen. Aus unterschiedlichen Gründen in sehr verschiedenen politischen Situationen werden Säulen des Rechtsstaats infrage gestellt. Es ist bedenklich, wenn Verfassungsschutzsysteme und die unabhängige Justiz als solche angezweifelt werden. Das sind sehr alarmierende Zeichen.

Lässt sich diese Entwicklung aufhalten?

Limperg Das will ich hoffen. In vielen Ländern der Welt wird der Rechtsstaat als solcher nicht infrage gestellt — allerdings gibt es Störungen aller Art. In der Europäischen Union besteht ein großer politischer Konsens, dass der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und der geteilten Staatsgewalt ein wesentlicher Grundpfeiler der Demokratie ist. Wichtig ist, dass wir immer wieder daran erinnern, was geschieht, wenn der Rechtsstaat aufgekündigt wird.

Leben wir in Deutschland auf einer Insel der rechtsstaatlichen Glückseligkeit?

Limperg Ich denke, dass wir in Deutschland eine ausgeprägte und im Grunde unbestrittene rechtsstaatliche Kultur haben. Nicht nur die gesetzlichen Grundlagen, sondern auch die Lebenswirklichkeit werden durch rechtsstaatliche Grundsätze ganz maßgeblich geprägt. Wir werden für unseren Rechtsstaat weltweit bewundert. Global betrachtet ist das also schon eine ziemliche Insel der Seligen.

Es gibt in der Bevölkerung ein diffuses Gefühl des Kontrollverlustes des Staates. Hat der Staat die Lage noch im Griff?

Limperg Davon gehe ich aus. Dieses Gefühl der Verunsicherung hat sicher viel mit der weltweiten Bedrohungssituation und der Angst vor Terror zu tun. Objektiv betrachtet besteht aber kein Anlass, an der Handlungsfähigkeit des deutschen Staates zu zweifeln.

Politiker fordern nach schlimmen Ereignissen gern, dass nun die "volle Härte des Rechts" zur Geltung kommen müsse. Tut sie das sonst nicht?

Limperg Die "volle Härte des Rechts" ist ein Begriff, der für uns Richter kein Maßstab sein kann. Wir versuchen, alle Seiten in den Blick zu nehmen und dann auf der Grundlage des Gesetzes die richtige Entscheidung zu finden. Ob sie hart ist oder nicht, ist kein eigener Maßstab bei der Rechtsanwendung. Ob wir neue oder schärfere Gesetze brauchen, ist eine politische Entscheidung.

Gibt es eine Stelle, an der Sie sich konkret härtere oder schärfere Gesetze wünschen würden?

Limperg Nein, spontan fiele mir nichts ein. Häufig wird eine konsequente Anwendung der bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten ausreichen.

In den sogenannten sozialen Netzwerken liest man häufig: "Gefährder, Kinderschänder und Sextäter laufen frei herum, aber wenn ich zu schnell fahre, dann greift der Staat voll durch." Was würden Sie dem Verfasser entgegnen?

Limperg Der Rechtsstaat hat sehr verschiedene Aufgaben. Er hat die Aufgabe, im Kleinen für Ordnung zu sorgen, und damit auch für das wichtige Gefühl einer gleichmäßigen Gerechtigkeit. Ebenso muss er im Großen Handlungsfähigkeit beweisen. Und das tut er auch. Die Kapazitäten, die man in der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten bindet, kann man nicht einfach in der Verfolgung von Straftaten einsetzen. Das sind Aufgaben, die von ganz unterschiedlichen Stellen bewältigt werden und nicht gewissermaßen gegeneinander "aufgerechnet" werden können. Man kann nicht sagen: Lass die Raser rasen und dafür fassen wir die Terroristen. Da verknüpft man Dinge, die nichts miteinander zu tun haben.

Dennoch sind im Internet eine Menge Hass und falsche Nachrichten unterwegs. Sehen Sie auch darin eine Bedrohung?

Limperg Das ist eine wichtige gesellschaftspolitische Frage. Wir müssen uns ganz sicher mit den Ängsten und Unsicherheiten, die häufig hinter Hasskommentaren und Hetze stehen, beschäftigen. Und wir müssen diesen Ängsten gewisse Sicherheiten und Antworten entgegensetzen. Eine freiheitliche Gesellschaft muss allerdings auch manches aushalten. Das ist im Einzelfall schwer zu vermitteln und auch eine Frage des gesellschaftlichen Diskurses. Da gibt es auch kein Machtwort, sondern wir müssen uns immer wieder aufs Neue den Herausforderungen einer komplexen Welt stellen und uns mit unterschiedlichsten Interessen auseinandersetzen. Das fängt in der Familie an und geht dann aber natürlich auch weiter in die Gesellschaft und die Politik.

Ungelöste gesellschaftliche Probleme landen oft vor Gericht. Auch über die Rechtswidrigkeit von Hasskommentaren sollen nach dem Gesetzentwurf von Bundesjustizminister Heiko Maas Gerichte entscheiden. Ganz grundsätzlich daher: Sind die deutschen Gerichte gut aufgestellt?

Limperg Der Deutsche Richterbund beklagt seit vielen Jahren eine unzureichende Personalausstattung der Justiz. Es fehlen nach wie vor bundesweit sehr viele Richter- und Staatsanwaltsstellen. Deswegen glaube ich nicht, dass die Justiz schon so ausgestattet ist, dass sie auf neue Aufgaben wartet. Wir haben in manchen Bundesländern starke Altersabgänge an den Gerichten und nicht ausreichend Nachwuchs zur Verfügung. Die Zahl der Rechtsreferendare, aber auch die Zahl der Volljuristen, also der Juristen mit zwei Staatsexamina geht zurück. Auch sieht sich die Justiz einiger Konkurrenz gegenüber. Um da mithalten zu können, gibt es sicherlich einiges zu tun. Etwa, wenn man an die Besoldungsstruktur denkt.

Ist der Beruf vielleicht zu unattraktiv geworden, wenn man daran denkt, dass internationale Kanzleien und Wirtschaftsprüfer mit sehr hohen Gehältern winken?

Limperg In finanzieller Hinsicht hat der Richterberuf noch nie mit der Tätigkeit in einer großen Anwaltskanzlei mithalten können. Es ist allerdings immer die Frage, mit was oder wem man sich vergleicht. Aber es ist sicher so, dass im Gesamtgefüge der Vergütungen das Gehalt der Richter nicht zu hoch ist. Nachwuchsjuristen machen sich Gedanken: Ist das ein Bereich, der dauerhaft attraktiv ist? Viele schätzen noch immer die Unabhängigkeit des Richters und, dass sie sich im Laufe eines Berufslebens stark entwickeln können: verschiedene Instanzen, verschiedene Fachbereiche. Das ist alles sehr reizvoll. Man hat das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, nämlich Rechtsfrieden zu schaffen. Viele Richter sind sehr gerne nicht nur als Letztentscheider unterwegs, sondern definieren sich auch dadurch, konsensuale Lösungen gemeinsam mit den Streitparteien zu finden.

Wie überzeugen Sie einen jungen Volljuristen, der gerade vor der Wahl steht: Wirtschaftskanzlei oder Amtsgericht?

Limperg Ich würde ihm sagen: Richter zu sein ist immer toll. Es ist einer der schönsten Berufe, den man ausüben kann. Man ist mit der ganzen Fülle des Lebens befasst, manchmal auch konfrontiert. Man darf streitschlichten, muss und kann dann aber auch entscheiden und man kann zur Entwicklung, zur Stabilisierung der Gesellschaft beitragen. Und all das in einer großen Unabhängigkeit. Das ist doch schwer zu toppen.

Viele Verwaltungsgerichte ächzen unter den vielen Asyl-Verfahren. Müssen wir Richter aus dem Ruhestand zurückholen?

Limperg Das müsste man unter vielerlei Aspekten prüfen. Es wäre mir jedenfalls lieber als der Einsatz von Richtern auf Zeit, denn das gäbe ein Problem mit der Unabhängigkeit. Es gab ja Modelle, Verwaltungsbeamte auf Zeit als Richter einzusetzen, da hätte ich eher Bedenken. Richtig ist, dass man für solche Spitzenbelastungen nach Lösungen suchen muss. Dasselbe Problem gab es auch bei den Sozialgerichten aufgrund der Hartz-IV-Reform. Es ist in solchen Situationen richtig, auch über ungewöhnliche Personalrekrutierungsmaßnahmen nachzudenken. Justizminister sind gezwungen, sich dazu Gedanken zu machen.

Nach der Entscheidung des Berliner Kammergerichts zum digitalen Erbfall eines Facebook-Kontos, drängt sich erneut die Frage auf, ob bestimmte rechtliche Werkzeugkästen ein Update brauchen.

Limperg Das muss man sich in der Tat immer wieder fragen. Die Richter sollen und können die Gesetzeslage nicht immer an neue Konstellationen anpassen. Sicherlich kommen wir in manchen Bereichen schon an Grenzen. Etwa der Vertragsschluss im Internet spielt sich nicht mehr so ab, wie sich der Gesetzgeber des Bürgerlichen Gesetzbuches das vor fast 150 Jahren vorgestellt hat. Und an digitalen Nachlass konnte er ja auch nicht denken. In erster Linie ist es Aufgabe des Gesetzgebers, Antworten auf Fragen zu finden, die sich aufgrund des technischen Fortschritts neu stellen.

Hier und da hat man den Eindruck, dass sich der Gesetzgeber vor diesen Aufgaben drückt.

Limperg Es ist oft sehr schwer, für eine denkbare Vielzahl von Fällen eine allgemein gültige Regelung zu finden. Das ist im demokratischen Diskurs keine leichte, sollte aber eine lösbare Aufgabe sein. Ich habe schon den Eindruck, dass sich der Gesetzgeber ganz überwiegend den Problemen stellt.

Mit Bettina Limperg sprach Henning Rasche.

(her)
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