"Bürger-Dialog" Die Kanzlerin und das weinende Flüchtlingskind

Rostock · Ihren "Bürger-Dialog" hat sich die Kanzlerin am Mittwoch sicherlich anders vorgestellt: In Rostock besuchte sie eine Schule und sah sich einem weinenden Mädchen aus dem Libanon gegenüber. Merkel reagierte für einige Beobachter unterkühlt auf das Schicksal des Kindes.

Die Kanzlerin streichelte dem weinenden Mädchen über die Schulter.

Die Kanzlerin streichelte dem weinenden Mädchen über die Schulter.

Foto: Youtube

Die kleine Reem weint. Gerade hat das Mädchen palästinensischer Abstammung Angela Merkel von ihrem Schicksal erzählt. Dass sie und ihre Familie jüngst kurz vor der Abschiebung standen und dass sie seit Jahren den Rest ihrer im Libanon lebenden Familie nicht mehr gesehen hat.

Die Spannung in der Turnhalle der Rostocker Paul-Friedrich-Scheel-Schule ist an diesem Mittwoch deutlich spürbar. Die Kanzlerin wird beim Bürgerdialog "Gut leben in Deutschland" vor 32 Schülern im Alter von 14 bis 17 Jahren direkt mit den Folgen der EU-Flüchtlingspolitik konfrontiert. Emotionaler Höhepunkt: Merkel geht zu der Sechstklässlerin und streichelt ihre Wange.

Aber die Kanzlerin, die als die mächtigste Frau der Welt gilt, macht auch deutlich, dass sie für das hübsche und aufgeweckte Mädchen nicht mehr tun kann. Sie spricht über die Anstrengungen der Bundesregierung, das Flüchtlingsproblem in den Griff zu bekommen. "Das ist manchmal auch hart - Politik", sagt Merkel und kommt ein wenig ins Stocken.

"Du bist ein unheimlich sympathischer Mensch", sagt Merkel. Aber Reem wisse halt auch, dass in den palästinensischen Lagern im Libanon noch Abertausende Flüchtlinge sitzen. Deutschland könne es nicht schaffen, allen Flüchtlingen im Nahen Osten oder denen in Afrika zuzurufen: "Ihr könnt alle kommen."

Merkels Reaktion löste Kritik aus. "So kann man doch nicht mit einem kleinen Mädchen umgehen", sagt eine Lehrerin im benachbarten Raum des modernen Schulzentrums, wohin der Dialog live übertragen wird. Der Kanzlerin fehle doch jegliche Empathie. Auch bei Twitter gab es einige negative Reaktionen.

Reems Schicksal geht den Zuhörern in der Turnhalle des Schulzentrums tief ins Herz. Seit vier Jahren ist sie erst an der integrativ arbeitenden Schule, hat in dieser Zeit fließend Deutsch und Englisch gelernt, etwas Schwedisch kann sie auch. Merkel ist beeindruckt und nimmt die Chance wahr, darauf aufmerksam zumachen, wie wichtig die Sprache bei den Integrationsbemühungen sind.

Der Hinweis trifft aber nicht die Lebenswirklichkeit von Reem. Ihr Vater habe früher als Schweißer gearbeitet, ohne Aufenthaltsgenehmigung dürfe er nicht beschäftigt werden. "Mir ging es hier an der Schule richtig schlecht." Jetzt sei zwar eine vorläufige Genehmigung da, aber noch immer sei die Familie im Wartestand. "Ich will auch meine Familie im Libanon wiedersehen", sagt Reem.

Merkel wirkt kühl, als sie sagt, dass künftig keiner mehr vier Jahre auf einen Bescheid zum Asylantrag warten solle. Der Libanon gelte nicht als Bürgerkriegsland. Es seien dort zwar keine sehr guten Lebensumstände, aber es gebe viele Menschen, denen es noch viel schlechter gehe. "Jetzt wollen wir ein beschleunigtes Verfahren machen, davon könntest du vielleicht profitieren."

Reem lässt nicht locker. "Ich habe Ziele wie alle anderen." Sie möchte studieren. "Es ist wirklich sehr unangenehm zuzusehen, wie andere das Leben genießen können und man selber halt nicht." Manche werden zurückgehen müssen, ist ein Teil der Kanzlerin-Antwort.

Dann geht Merkel zu der weinenden Reem. "Du hast das doch prima gemacht", sagt sie. Und an den Moderator gewandt: "Ich weiß, dass das eine belastende Situation ist - aber trotzdem möchte ich sie einmal streicheln."

Moderator Felix Seibert-Daiker wechselt das Thema. Aber vorher gibt er der Kanzlerin noch eine Mahnung mit auf den Weg: "Wäre schön, wenn Sie das Gesicht des Kindes mitnehmen. Und immer wenn Sie über das beschleunigte Verfahren reden, rufen Sie sich das nette Gesicht des Kindes ins Gedächtnis."

Bundesregierung schreibt Bericht um

Auch auf der Webseite des Bürger-Dialogs der Bundesregierung erschien ein Bericht über Merkels Begegnung mit Reem - allerdings in zwei Fassungen. In der ersten Fassung hieß es, das Mädchen habe "vor lauter Aufregung" weinen müssen. In der zweiten Fassung, gegen die der Text am Nachmittag ausgetauscht wurde, heißt es dann "Das Mädchen musste weinen" - ein Grund dafür wird nicht mehr genannt. Ein Nutzer teilte einen Screenshot beider Texte bei Twitter:

(dpa)
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