Die Bundeskanzlerin im Interview Angela Merkel: "Putin tut zu wenig"

Berlin · Eine Kanzlerin im Krisenmodus: Zehn Wochen vor ihrem 60. Geburtstag dominiert bei Angela Merkel die Ukraine-Krise. Für Präsident Putin hat sie eine klare Botschaft. Im Interview mit unserer Redaktion spricht Merkel aber auch über die Zukunft der Rente und ihre Pläne für den eigenen Geburtstag.

 Angela Merkel wird in zehn Wochen 60 Jahre alt.

Angela Merkel wird in zehn Wochen 60 Jahre alt.

Foto: Laurence Chaperon

In der Ostukraine herrscht mittlerweile ein Bürgerkrieg. Haben Sie die Hoffnung, dass das Land in seinen bisherigen Grenzen erhalten bleiben kann?

Merkel: Die territoriale Integrität der Ukraine muss wie die jedes souveränen Staates geachtet werden. Es ist eine sehr ernste Situation, denn schon mit der Annexion der Krim durch Russland wurde die staatliche Unversehrtheit der Ukraine verletzt.

Hat die bisherige Strategie aus Diplomatie, Sanktionen und Hilfe für die Ukraine etwas gebracht?

Merkel: Wir haben in Genf wenigstens erste Vereinbarungen für eine Stabilisierung der Ukraine erreicht, die allerdings bislang nicht umgesetzt wurden. Ich bin dennoch überzeugt, weiter alles daranzusetzen, eine politische Lösung für den Konflikt in der Ukraine zu suchen. Deshalb arbeiten der Außenminister und ich dafür, dass in der Ukraine am 25. Mai frei und demokratisch ein neuer Präsident gewählt werden kann. Auf dem Weg dahin kann die OSZE eine wichtige Rolle spielen. Alle Parteien der Genfer Konferenz sollten sie unterstützen und sich gegebenenfalls auch noch einmal treffen. Auch das Format des runden Tisches, wie wir es 1989/1990 gemacht haben, könnte helfen. Präsident Putin bleibt aufgefordert, die pro-russischen Kräfte in der Ukraine zum Niederlegen der Waffen und zur Räumung der besetzten Häuser aufzurufen. Russland übt etwa durch Truppen in der Nähe der ukrainischen Grenze oder durch die unverändert bestehende Ermächtigung des russischen Parlaments zum militärischen Eingreifen in der Ukraine weiterhin einen enormen Druck auf die Ukraine aus. Notfalls sind wir auch zu weiteren Sanktionen bereit, auch wenn wir sie uns wahrlich nicht wünschen. Sie sind für uns kein Selbstzweck.

 Kanzlerin Angela Merkel mit Chefredakteur Michael Bröcker und Eva Quadbeck, der Leiterin unserer Berliner Parlamentsredaktion.

Kanzlerin Angela Merkel mit Chefredakteur Michael Bröcker und Eva Quadbeck, der Leiterin unserer Berliner Parlamentsredaktion.

Foto: Laurence Chaperon

Ist die Präsidentenwahl am 25. Mai der Maßstab für weitere Sanktionen?

Merkel: Das Ziel sind diplomatische Fortschritte für eine Stabilisierung der Ukraine, und da spielen die Wahlen am 25. Mai eine wichtige Rolle. Dafür setzen wir uns ein. Tatsächliche diplomatische Fortschritte können weitere Sanktionen vermeiden.

Die Mission der deutschen OSZE-Beobachter wirkte nicht gerade offiziell.

Merkel: Es war eine offizielle Mission unter dem Dach der OSZE, von der alle Seiten unterrichtet waren. Die OSZE hat zur Zeit drei verschiedene Missionen in der Ukraine: eine zur Wahlvorbereitung, eine zur Beobachtung der Lageentwicklung und eine, die auf dem sogenannten Wiener Dokument von 1990 beruht und militärische Aspekte im einladenden Land beobachtet. Bei dieser kam es zu der Geiselnahme, die nun glücklicherweise beendet ist.

Wie hilfreich war der CDU-Außenpolitiker Mißfelder bei der Befreiung der Geiseln mit seinem Besuch bei Präsident Putin in St. Petersburg?

Merkel: Jeder Beitrag, der sich für die Freilassung der Geiseln eingesetzt hat, war willkommen. Viele haben da einen Beitrag geleistet, vorneweg die OSZE.

 Michael Bröcker und Eva Quadbeck im Gespräch mitAngela Merkel in ihrem Büro im Kanzleramt.

Michael Bröcker und Eva Quadbeck im Gespräch mitAngela Merkel in ihrem Büro im Kanzleramt.

Foto: Laurence Chaperon

Hat die EU zu Beginn der Krise Russlands Rolle und die prorussischen Kräfte in der Ukraine unterschätzt?

Merkel: Nein. Die Annäherung zwischen der EU und der Ukraine fand ja schon mit dem früheren ukrainischen Präsidenten Janukowitsch statt, der über lange Zeit das Assoziierungsabkommen mit der EU verhandelt und immer wieder gesagt hat, es unterschreiben zu wollen. Zugleich hat auch die EU stets einen engen Dialog mit Russland über unsere gemeinsame Nachbarschaft geführt. Eine sich modernisierende und wettbewerbsfähigere Ukraine wäre für alle Nachbarländer eine gute Entwicklung. Es wurde durchaus thematisiert, inwieweit Probleme aus solch einem Abkommen der EU mit der Ukraine beispielsweise im Handel mit Russland entstehen könnten. Entscheidend für uns war und ist, dass ei-ne freie und souveräne Ukraine selbst über die eigene Zukunft befinden kann.

Wie groß ist ihr persönlicher Einfluss auf Putin?

Merkel: Ich halte es für wichtig, zum Gespräch bereit und fähig zu bleiben, auch in politisch schwierigen Situationen. Präsident Putin und ich sind gesprächsfähig, auch wenn das natürlich nicht heißt, dass wir übereinstimmen. Er hat leider Entscheidungen getroffen, mit denen Russland das internationale Recht bricht. Er tut derzeit auch zu wenig, um zur tatsächlichen Entspannung der gefährlichen Situation beizutragen. Mittelfristig handelt Präsident Putin damit nicht im Interesse Russlands.

Können Sie mit dem russischen Präsidenten Absprachen verbindlich treffen?

Merkel: Darin liegt nicht das Problem. Wie Präsident Putin Russlands Interessen derzeit definiert und sie umsetzt, das unterscheidet sich leider von den Interessen eines Großteils der internationalen Staatengemeinschaft und damit verstößt er gegen das Völkerrecht.

Kann sich das Schicksal der Krim in der Ostukraine wiederholen?

Merkel: Wir setzen uns dafür ein, dass das nicht passiert.

Sollte beim Nato-Gipfel im September ein möglicher Beitritt der Ukraine thematisiert werden?

Merkel: Ich sehe das nicht. Auch der ukrainische Ministerpräsident Jazenjuk hat selbst gesagt, dass er eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine im Augenblick nicht sieht.

Welche Auswirkung hat die Ukraine-Krise auf die Europa-Wahl?

Merkel: Die Ukraine-Krise führt uns mit aller Deutlichkeit vor Augen, welches Glück und welcher Schatz die europäische Einigung ist. Wir gedenken in diesem Jahr des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren, des Beginns des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren und des Mauerfalls vor 25 Jahren. Die Europäische Union löst einen Konflikt wie den zwischen Russland und der Ukraine anders als vor 100 und 75 Jahren nicht mehr mit militärischen Mitteln. Wir Deutschen hatten 1989 das große Glück, friedlich unseren Weg in Freiheit gehen zu können. Die Ereignisse in der Ukraine zeigen uns, wie schwer es heute anderen Ländern noch gemacht wird, auch ihren eigenen Weg zu gehen. Und wir erfahren aufs Neue, dass jeden Tag hart dafür gearbeitet werden muss, um unser europäisches Friedenswerk zu erhalten.

Bei der Wahl des Kommissionspräsidenten nach der Europa-Wahl soll laut Lissabon-Vertrag die Zusammensetzung des EU-Parlaments berücksichtigt werden. Bedeutet dies, dass auf jeden Fall Martin Schulz oder Jean-Claude Juncker Kommissionspräsident werden?

Merkel: Nach dem Lissabon-Vertrag ist es so, dass das Parlament auf Vorschlag des Rats der Staats- und Regierungschefs den Kommissions-präsidenten wählt und dass dabei der Rat den Ausgang der Wahl berücksichtigt. Die Spitzenkandidaten der Parteienfamilien in Europa werden in diesem Zusammenhang natürlich eine Rolle spielen.

Vizekanzler Sigmar Gabriel sagt, es wäre Volksverdummung, wenn nicht einer der beiden Spitzenkandidaten auch Kommissionschef würde.

Merkel: Wir haben eine klare vertragliche Grundlage, mit der der Europäische Rat dem Europäischen Parlament seinen Vorschlag für den nächsten Kommissionspräsidenten machen wird.

Gibt es Widerstand gegen einen deutschen Spitzenrepräsentanten in der EU, nachdem ja schon die deutsche Bundeskanzlerin in Europa eine dominante Rolle spielt?

Merkel: Nein. Die Sozialisten haben Martin Schulz zum Spitzenkandidaten nominiert und die EVP Jean-Claude Juncker. Vorbehalte gegenüber Nationalitäten gibt es nicht.

Zur Berliner Politik: Befinden Sie sich in Ihrer Wunschkoalition?

Merkel: Ich befinde mich in einer Koalition, die gut arbeitet und in der wir fest entschlossen sind, unsere Aufgaben entsprechend dem Koalitionsvertrag zum Wohle Deutschlands zu lösen. Wie die Ukraine zeigt, hat uns schon gleich zu Beginn der Legislaturperiode ein Thema erreicht, mit dem in dieser Form nicht zu rechnen war. Auch bei diesem wirklich schwierigen Problem gehen wir im Einvernehmen vor.

Ein halbes Jahr nach Amtsantritt sind die Zustimmungswerte höher als in früheren Regierungen. Spiegelt die große Koalition die Mentalität der Deutschen wider?

Merkel: Die große Koalition erfüllt insoweit die Erwartungen, als sie den Wählerauftrag ernst nimmt. Das wird geachtet, denke ich.

Gibt es ein Projekt der CDU aus den ersten 100 Tagen der Regierung, von dem Sie sagen, dass Sie darauf stolz sind?

Merkel: Mehrere. Ich bin zum Beispiel stolz darauf, dass Finanzminister Schäuble einen strukturell ausgeglichenen Haushalt vorgelegt hat und dass wir im nächsten Jahr gar keine neuen Schulden mehr machen. Ich freue mich auch über das zukunftsweisende Erneuerbare-Energien-Gesetz, das wir gemeinsam auf den Weg gebracht haben.

Die Demografie und die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands sind Themen, die sich durch ihre Amtszeit ziehen. Wenn beides ihre Herzensanliegen sind, verstehen wir nicht, wie Sie diesem teuren Rentenpaket zustimmen können.

Merkel: Wir haben in Deutschland über viele Jahre eine Politik gemacht, durch die Lohnzusatzkosten gesunken sind und die Zahl der Arbeitsplätze gestiegen ist. Das soll auch so bleiben. In all diesen Jahren haben die Arbeitnehmer Lohnzurückhaltung geübt. Jetzt haben wir auch dank dieser Anstrengungen eine wirtschaftlich erfreuliche Lage und gut gefüllte Rentenkassen. In dieser Situation halte ich das Rentenpaket für verantwortbar, zumal die unter dem Stichwort Mütterrente bekannten Verbesserungen für Frauen, die ihre Kinder vor 1992 bekommen haben, die Rentenversicherung nicht dauerhaft belasten. Die zusätzlichen Kosten dafür gehen um die Jahre 2030 bis 2035 zurück. Bei der abschlagfreien Rente nach 45 Beitragsjahren senken wir das Eintrittsalter jetzt auf 63 Jahre ab, heben es dann aber Stück für Stück wieder auf 65 Jahre an. Das heißt, wenn die großen demografischen Herausforderungen kommen, haben wir bei der Altersgrenze im Grundsatz wieder die Regelung hergestellt, die vor der Reform galt. Damit wird die Entscheidung zur Rente mit 67, mit der wir uns auf die demografischen Herausforderungen vorbereiten, beibehalten.

Warum ist der CDU die Mütterrente so wichtig?

Merkel: Für jüngere Mütter gibt es pro Kind drei Jahre Anerkennung im Rentensystem. Wir haben das Elterngeld eingeführt, die Kitas ausgebaut und einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz geschaffen. Das sind alles Dinge, von denen Mütter früherer Jahrgänge nur träumen konnten. Und trotzdem wird ihnen bisher nur ein Jahr pro Kind bei der Rente gut geschrieben. Das ist nicht gerecht, deshalb ist die Ausweitung der Mütterrente vertretbar.

Wie wollen Sie verhindern, dass die Rente ab 63 eine Frühverrentungswelle auslöst?

Merkel: Wir sind uns in der Koalition einig, dass wir das verhindern wollen und diskutieren gerade über den besten Weg. Ich bin optimistisch, dass wir eine Lösung finden.

Was halten Sie von der Idee Ihres Wirtschaftsflügels mit einer Flexi-Rente jenen die länger arbeiten wollen, dies zu erleichtern?

Merkel: Wie die Lebensarbeitszeit gestaltet werden kann, wie Beruf und Familie zu vereinbaren sind — das sind Fragen, die immer mehr Menschen wichtig sind. Tatsächlich gibt es ältere Menschen, die gerne länger in ihren Berufen arbeiten wollen, die Freude daran haben, ihre Erfahrung noch länger einzubringen. Deshalb wollen wir in der Koalition auch darüber sprechen, wie wir dem Wunsch derjenigen, die freiwillig über das gesetzliche Renteneintrittsalter hinaus erwerbstätig sein wollen, besser entsprechen können.

Gibt es in dieser Wahlperiode noch die Chance, dass die kalte Progression in der Steuer abgebaut wird?

Merkel: Wenn sich finanzielle Spielräume ergeben, wird die Koalition über einen Abbau der kalten Progression reden, aber auf absehbare Zeit sehe ich diese Spielräume nicht.

Beim Abbau der kalten Progression geht es darum, Leistungsträger nicht übermäßig zu belasten. Bleibt das Ihr politisches Ziel?

Merkel: Wir haben uns entschieden, zuerst darauf hin zu arbeiten, keine neuen Schulden zu machen. Das schaffen wir 2015 zum ersten Mal seit Jahrzehnten — für jeden Bürger ist das eine gute Nachricht.

In Düsseldorf regiert mit dem CDU-Mann Dirk Elbers einer der wenigen Konservativen in Großstädten. Was muss die CDU tun, damit sie das Lebensgefühl der Städter besser trifft?

Merkel: Wer in der Kommunalpolitik Erfolg haben will, braucht starke Persönlichkeiten — und solch eine Persönlichkeit ist Dirk Elbers, ein aus-gezeichneter Oberbürgermeister. Genauso wie der Oberbürgermeister von Aachen, Marcel Philipp, auch ein Christdemokrat.

Die CDU kann also Großstadt?

Merkel: Wir sind eine Volkspartei und können in Großstädten wie auf dem Land gute Ergebnisse erzielen.

Wenn der Solidaritätszuschlag für den Osten 2019 ausläuft, werden dann die Kommunen mehr Geld erhalten?

Merkel: Wir werden bis Juni eine Kommission einsetzen, die sich mit allen Fragen der künftigen Verteilung der Finanzen zwischen Bund und Ländern befassen soll. Über einzelne Punkte kann ich noch nichts sagen, sonst brauchten wir die Kommission nicht.

Sie werden in zehn Wochen 60. Ist die Rente mit 63 was für Sie?

Merkel: Ich freue mich auf meinen Geburtstag und konzentriere mich ansonsten auf die Arbeit, mit der die Wähler mich beauftragt haben.

Planen Sie eine große Feier?

Merkel: Es wird wie schon zu meinem 50. Geburtstag auch jetzt wieder im Konrad-Adenauer-Haus ein sogenanntes Berliner Gespräch geben. Die Einzelheiten zum Ablauf des Gesprächs habe ich noch nicht festgelegt.

Horst Seehofer behauptet, dass Sie über 2017 hinaus regieren werden. Hat er Recht?

Merkel: Ich bin mit viel Freude und Elan Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende und kümmere mich jetzt um viele Themen, auch um die Europawahl im Mai.

Michael Bröcker und Eva Quadbeck führten das Gespräch.

(brö / qua)
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