Andrea Nahles im Interview "Mindestlohn bringt mehr Beschäftigung"

Berlin · Die Bundesarbeitsministerin zieht im Interview mit unserer Redaktion eine positive Bilanz nach einem Jahr und kündigt weitere Gesetze an.

 Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) sprach mit unserer Redaktion.

Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) sprach mit unserer Redaktion.

Foto: dpa, gam sab vfd

Zum Interview treffen wir Arbeitsministerin Andrea Nahles in ihrem Büro in Berlin. Trotz schwieriger Zeiten ist sie gut aufgelegt und zeigt sich bei ihren Herzensthemen streitlustig. Nach einem Jahr Mindestlohn zieht sie eine positive Bilanz - auch für die Wirtschaft.

Können Sie nach einem Jahr Mindestlohngesetz sagen, dass niemand mehr in Deutschland weniger als 8,50 Euro pro Stunde verdient?

Nahles Wir haben eine Haltelinie nach unten eingezogen, die für alle gilt. Für einzelne Branchen gelten noch Übergangsfristen bis 2017. Alle anderen, die weniger zahlen, handeln illegal, und wer erwischt wird, dem drohen Strafen. Bis zu vier Millionen Menschen in Deutschland bekommen den Mindestlohn. Das ist die größte Sozialreform der letzten Jahrzehnte, und entgegen einigen lautstarken Befürchtungen gibt es keinerlei ökonomische Verwerfungen und keine Arbeitsplatzverluste durch den Mindestlohn. Im Gegenteil: Wir haben mehr Beschäftigung und mehr Gerechtigkeit. Ich war zwar immer optimistisch bei Einführung des Mindestlohns, aber diese rundum positive Bilanz freut mich doch ganz besonders.

Die Zahl der Mini-Jobs ist aber sehr wohl gesunken . . .

Nahles Erste Untersuchungen zeigen, dass in den Branchen, in denen Mini-Jobs wegfallen - wie zum Beispiel im Einzelhandel und im Gastronomiebereich -, im gleichen Zeitraum ein vergleichbarer Anstieg von sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen zu verzeichnen ist. Das heißt, die Leute erhalten etwas Besseres statt der Minijobs. Das kann ich nur begrüßen.

Es ist aber nicht gelungen, in großem Umfang erwerbstätige Menschen aus ergänzenden Sozialleistungen herauszuholen.

Nahles Das sehe ich anders. Es gibt 50.000 Aufstocker weniger. Sie können nun von ihrer Arbeit leben und sind nicht mehr auf staatliche Leistungen angewiesen. Und vor allem: Jeder weiß jetzt, was ihm zusteht. Damit haben wir die Verhandlungsposition für Menschen im Niedriglohnbereich entscheidend verbessert. Das ist ein Erfolg.

Erwarten Sie für 2017 eine Erhöhung des Mindestlohns?

Nahles Darüber wird nicht die Politik entscheiden, sondern die unabhängige Mindestlohnkommission, die mit Gewerkschaften und Arbeitgebern paritätisch besetzt ist. Sie werden mit Blick auf die letzten Tarifrunden und die ökonomischen Entwicklungen insgesamt nach festen Kriterien über eine Anpassung des Mindestlohns entscheiden. Da es Deutschland ökonomisch gut geht und die Löhne gestiegen sind, warum sollte davon nicht auch der Mindestlohn profitieren?

Sie sagen, dass 30 Prozent der Flüchtlinge innerhalb eines Jahres in den Arbeitsmarkt integriert werden könnten. Woher nehmen Sie den Optimismus?

Nahles Die Bundesagentur für Arbeit geht frühzeitig in die Erstaufnahmeeinrichtungen hinein. Daher sind wir guten Mutes, dass bei ungefähr 30 Prozent der Flüchtlinge die Startbedingungen günstig sind. Ein Hauptproblem ist die Sprache. Acht bis zehn Prozent von ihnen können wir schnell vermitteln, weil sie zum Beispiel Englisch sprechen. Unser Ziel ist, dass wir den Spracherwerb und den beruflichen Einstieg miteinander verzahnen, damit wir Zeit sparen.

Sie haben für die Hartz-IV-Leistungen für Flüchtlinge 2016 zwei Milliarden Euro mehr in Ihrem Haushalt. Wird das ausreichen?

Nahles Wir sind gut aufgestellt, um in das neue Jahr zu starten. Es ist Herrn Schäuble und mir klar, dass wir den Etat für 2016 noch einmal aufstocken müssen, wenn sich die Zahl der Flüchtlinge im Vergleich zur Haushaltsplanung weiter erhöht. Wir müssen alles daransetzen, sie bei der Integration in den Arbeitsmarkt bestmöglich zu unterstützen. Das sind viele junge Menschen, die hochmotiviert sind und unbedingt arbeiten wollen. Unsere Initiative "Neustart" zeigt Wege auf, wie wir sie schnell mit den Unternehmen zusammenbringen und qualifizieren. Aber wir müssen auch niedrigschwellige zusätzliche Arbeitsgelegenheiten schaffen nach dem Muster der Ein-Euro-Jobs. Zum Beispiel hat mich ein Bürgermeister aus Rheinland-Pfalz gefragt, ob er nicht Asylbewerber beschäftigen kann, um den Bolzplatz wieder auf Vordermann zu bringen.

Hat die Kanzlerin Sie ausgebremst bei der Regulierung von Zeitarbeit und Werkverträgen?

Nahles Nein, es ist fest vereinbart, dass der Gesetzentwurf im Januar in die Ressortabstimmung geht. Mein Gesetzentwurf basiert auf der Grundidee: mehr Flexibilität durch Tarifvertrag. Druck machen jetzt die Unternehmen, die nicht in einer Tarifgemeinschaft sind. Außerdem kritisieren die Arbeitgeber den geplanten Kriterienkatalog für Werkverträge. Da bin ich aber streitlustig, denn ich setze hier eins zu eins den Koalitionsvertrag um. Ich will nicht die Werkverträge abschaffen, aber ich will, dass sie sauber sind und nicht massenhaft missbräuchlich eingesetzt werden - nicht nur in der Fleischindustrie, sondern leider auch in der Metallindustrie und anderen Branchen.

Das Bundessozialgericht sieht die Städte und Kommunen in der Verantwortung für EU-Ausländer, wenn diese mittellos sind und in Deutschland keine Arbeit haben. Welche Konsequenz folgt für Sie aus diesem Urteil von Anfang Dezember?

Nahles Die bisher vorliegenden Informationen zu dem Urteil lassen vermuten, dass es eine Orientierung hin zum kommunal finanzierten Sozialgeld gibt. Die Kommunen sind gerade erst bewusst von uns entlastet worden, sie haben noch neue Aufgaben durch die Flüchtlinge bekommen. Das wollen wir nun nicht durch die Hintertür wieder aushebeln.

Wollen Sie eine gesetzliche Regelung treffen, um die Kommunen von dieser Verpflichtung für EU-Ausländer zu entlasten?

Nahles Es gibt ganz klar einen gesetzlichen Handlungsbedarf. Wir müssen die Kommunen davor bewahren, unbegrenzt für mittellose EU-Ausländer sorgen zu müssen. Wie dieses Gesetz genau aussehen muss, kann ich erst sagen, wenn die vollständige Urteilsbegründung des Bundessozialgerichts vorliegt. In dieser Frage werden wir uns dann innerhalb der Bundesregierung sicherlich schnell einigen können.

Wie erklären Sie sich das schlechte Ergebnis von Sigmar Gabriel bei seiner Wiederwahl zum Parteichef?

Nahles Wir haben in dieser Bundesregierung hervorragende Arbeit gemacht. Das ist zuvorderst der guten Arbeit des Parteichefs zu verdanken. Meine Analyse ist, dass es beim Parteitag zu viele Delegierte gab, die nur auf den einen oder anderen Einzelaspekt geschaut haben, mit dem sie persönlich unzufrieden sind, aber die gute Gesamtbilanz nicht gesehen haben. Das ist ungerecht.

Will er noch Kanzlerkandidat werden?

Nahles Sigmar Gabriel ist Niedersachse, er ist also sturmfest und erdverwachsen. Als Parteivorsitzender hat er sowohl für den Zeitpunkt, wann eine Entscheidung fällt, als auch in der Sache selbst das erste Zugriffsrecht.

BIRGIT MARSCHALL UND EVA QUADBECK FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.

(mar / qua)
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