Analyse Asylrecht für alle

Düsseldorf · "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" - so steht es im Grundgesetz. Der Satz war 1949 ein Neubeginn nach dem Terror der Nazis. Deutschlands Regelung ist kein Kalkül, sondern Programm. Und war von Anfang an umstritten.

Analyse zur Flüchtlingskrise: Asylrecht für alle
Foto: RP/Endermann

Am 12. August 1935 erhält Victor Klemperer einen Brief, gestempelt auf den Bermudas. Absender sind der Psychologe Walter Blumenfeld und seine Frau Grete, zwei deutsche Juden auf dem Weg ins Exil nach Peru. Der jüdische Romanist Klemperer hat seine Empfindungen beim Lesen in seinen Aufzeichnungen festgehalten: "Er wirkt sehr verstimmend auf mich. Statt sich zu freuen, klagen sie über Seekrankheit und Europasehnsucht." Klemperer schickt eigene Verse zurück: "Danket Gott an allen Tagen, / der euch übers Meer getragen / und erlöst von großen Plagen - / kleine haben kein Gewicht. / Von der Reling eines freien / Schiffes in die See zu speien, / ist der Übel höchstes nicht."

Für das Verständnis des bundesdeutschen Asylrechts ist die kleine Episode erhellend. Denn Klemperer hatte recht: Die Blumenfelds gehörten zu den Glücklichen, weil sie dem Terror der Nazis entkamen. Er selbst überlebt das NS-Regime mit knapper Not. Hunderttausende andere haben weniger Glück. Bis 1939 hat nur etwa die Hälfte der Juden den deutschen Machtbereich verlassen - teils auch, weil sie nicht wissen, wohin. 230.000 deutsche und österreichische Juden sterben im Holocaust. Dass im Grundgesetz der Satz steht: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht", ist Folge dieser Katastrophe.

Denn die Erfahrungen der Flüchtlinge sind bitter. "In den 30er Jahren sind in Europa die autoritären Strömungen stark, viele Regierungen sympathisieren mit dem NS-Regime, ein verbreiteter Antisemitismus ist eher die Regel als die Ausnahme", sagt Patrice Poutrus, Historiker an der Universität Wien. Zudem hätten viele Regierungen einen Ausgleich mit Hitler nicht durch Großzügigkeit gefährden wollen. Poutrus' Fazit: "Vor allem in Westeuropa gab es geringe Neigung, Deutsche aufzunehmen". Und Amerika? "Eine Reihe Prominenter hat es zwar in die USA geschafft", sagt Poutrus, "aber eine Willkommenskultur gab es keineswegs." Die USA verlangten zum Beispiel Bürgschaften von im Land ansässigen Verwandten. Dass überhaupt so viele entkamen, sagt Poutrus, sei ein Verdienst von Einzelnen und Nichtregierungsorganisationen gewesen.

Und viele entkommen nur scheinbar. Im Krieg holt Hitler sie ein. 1940, als die Wehrmacht Frankreich überrollt, halten sich dort etwa die Philosophen Hannah Arendt und Walter Benjamin auf. Arendt entkommt über Portugal in die USA; Benjamin bringt sich um, weil er auch nach der Flucht nach Spanien die Auslieferung fürchtet.

Aus alldem zieht man nach 1945 Lehren. Und doch ist die Linie verschlungen, die zu Artikel 16 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes führt - vielleicht auch, weil die meisten Mitglieder des Parlamentarischen Rats, der 1948/49 das Grundgesetz erarbeitet, keine Emigranten sind. "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" lautet zwar schon zu Beginn der Vorschlag - wie es auch im fertigen Grundgesetz steht.

Dazwischen aber liegt eine Reihe von Vorschlägen, restriktiver zu formulieren. Der Staatsrechtler Richard Thoma schlägt vor: "Ausländer, welche wegen ihres Eintretens für Freiheit, Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Weltfrieden politisch verfolgt werden, genießen Asylrecht." Sonst schütze man noch die, die "wegen kommunistischer oder faschistischer Wühlereien gegen eine befreundete Demokratie verfolgt werden". Als Befürworter eines weitreichenden Asylrechts tritt der Sozialdemokrat Carlo Schmid auf: Asyl sei eine Frage der Großzügigkeit, sagt er. Schmids Argumentation weist weit über das Kurzfristige hinaus: "Wenn man generös sein will, muss man riskieren, sich in der Person geirrt zu haben." Darin liege "auch die Würde eines solchen Aktes".

Ein zweiter Vorstoß legt noch enger aus: Zuflucht solle nur jeder Deutsche erhalten, "der wegen seines Eintretens für Freiheit, Demokratie, soziale Gerechtigkeit oder Weltfrieden verfolgt wird", fordert der spätere Außenminister Heinrich von Brentano (CDU) - das ist auf Flüchtlinge aus der sowjetischen Zone gemünzt. Deutsche brauchten in Deutschland kein Asylrecht, erwidert der Jurist Friedrich Wilhelm Wagner (SPD), und Asyl habe nichts mit Gesinnung zu tun. Der Parlamentarische Rat lehnt alle Einschränkungen ab. Das Asylrecht wird das einzige Grundrecht, das nur Ausländern zusteht.

Artikel 16 Absatz 2 Satz 2 steht also über tagespolitischem Kalkül. Acht Jahre vor Ludwig Erhards "Wohlstand für alle" kommt "Asylrecht für alle". Von einem "programmatischen Neuanfang" spricht Historiker Poutrus, "einer klaren, fundamentalen Abgrenzung". Die Geschichte der Realpolitik, der Einschränkungen, beginnt viel später. Erbitterte Diskussionen über die Aufnahmefähigkeit der Bundesrepublik werden schon in den 70er Jahren geführt; 1980 übersteigt die Zahl der Asylanträge erstmals 100.000. Artikel 16 wird aber erst 1993 ergänzt, unter dem Eindruck der Fluchtwelle aus Ex-Jugoslawien.

Artikel 16a heißt er seitdem, und seitdem führt der Bund eine ständig wachsende Liste "sicherer Drittstaaten" - wer von dort einreist, hat keinen Anspruch auf Asyl. Europäische Vereinbarungen beschränken das Asylrecht faktisch weiter: Wo ein Schutzsuchender EU-Boden betritt, muss er auch den Antrag auf Asyl stellen, besagt die Dublin-Verordnung. Das entlastet Deutschland, das in der Mitte des Kontinents gelegene Ziel Abertausender - bis Angela Merkel die Grenzen für Flüchtlinge öffnet. Mehr als eine Million kommen 2015. Fast die Hälfte der gut 282.000 Asylentscheidungen endet mit einem Schutzstatus gemäß Genfer Flüchtlingskonvention; nur 0,7 Prozent haben als politisch Verfolgte Anspruch auf Asyl. Artikel 16a, also einer der Leitsätze, in denen sich die Bundesrepublik als Gegenmodell zur NS-Diktatur definiert, ist längst nicht mehr die wichtigste Grundlage für ein Bleiberecht. Das nennt man wohl Ironie der Geschichte.

(fvo)
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