Rolle Deutschlands in Europa Die ungeliebte Mittelmacht

Berlin · Deutschland, die führende Nation Europas, ist zu schwach, um global eine Rolle zu spielen. Zudem misstrauen viele der neuen Zentralmacht. Nur mit einem starken Frankreich gelangt Berlin aus diesem Dilemma.

 In seiner neuen Führungsrolle ist Deutschland auf europäische Verbündete angewiesen.

In seiner neuen Führungsrolle ist Deutschland auf europäische Verbündete angewiesen.

Foto: Keystone / Jochen Zick

Ohne die Krawalle wäre der Gipfel der mächtigsten Länder der Welt in Hamburg Anfang Juli zur großen Angela-Merkel-Show geworden. Die Kanzlerin moderierte souverän, verteilte Aufgaben und rief wie eine strenge Lehrerin säumige Vertreter an den Verhandlungstisch zurück ("Wo sind meine chinesischen Freunde?", "Kommt Erdogan noch?"). Plastischer lässt sich die neue weltpolitische Rolle Deutschlands kaum beschreiben.

Doch das Bild täuscht. Trotz aller außenpolitischer Aufwertung, trotz hoher Wachstumsraten in der Wirtschaft und der Anerkennung für die großzügige Aufnahme von Flüchtlingen ist die Stellung Deutschlands prekär. Das Land ist für ein gleichgewichtiges Europa zu groß und zu klein, um die Interessen und Werte Europas auf globaler Ebene wirksam zu vertreten. Deutschland ist ein gutes Vierteljahrhundert nach der wiedergewonnenen Einheit zur ungeliebten Mittelmacht geworden, kritisch beäugt von seinen Nachbarn, gefürchtet wegen seines wirtschaftspolitischen Diktats und verspottet wegen der mangelnden Einsatzfähigkeit seiner Armee.

Dabei ist nicht zu übersehen, dass Deutschland unter Kanzlerin Merkel die neue Führungsaufgabe so stark wahrnimmt wie unter keinem ihrer Vorgänger. Die deutsche Regierungschefin führt, ohne aufzutrumpfen. Ganz wie eine Sachwalterin der politischen Vernunft - ohne brutale Eigeninteressen. Merkel hat in der Krim-Krise, bei der Behandlung Griechenlands und nicht zuletzt angesichts der Flüchtlingsströme eine Rolle gespielt, die Politologen wie Leon Mangasarian und Jan Techau in ihrem jüngsten Buch "Führungsmacht Deutschland" als "Dienendes Führen" bezeichnen.

Je mehr sich aber die Deutschen anstrengen, ja ihnen nach der Amtsübernahme von US-Präsident Donald Trump sogar zugetraut wird, "den freien Westen zu führen" (Barack Obama), desto deutlicher werden die Grenzen dieser Macht. Denn die ungewohnte Stärke macht einsam und vollzieht sich in einer Zeit, in der die Positionen weltweit neu verteilt werden.

Die deutsche Regierungschefin sieht durchaus das Dilemma und wehrt sich nach Kräften gegen eine Überforderung Deutschlands. Doch die ist angesichts der Abwendung der USA, des Ausscheidens Großbritanniens aus der Europäischen Union, der autoritären Tendenzen in Polen und Ungarn, der aggressiven Haltung Russlands und des Marsches der Türkei in eine national-religiöse Diktatur schon längst eingetreten. Deutschland kann diese Probleme nicht lösen - nicht einmal mit einer starken EU, die ohnehin nirgends zu sehen ist.

Die Bundesrepublik kommt zum ersten Mal in ihrer Geschichte in eine höchst unkomfortable Position. "Die deutsche Frage ist offen, solange das Brandenburger Tor zu ist", sagte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Doch der kluge Politiker täuschte sich. Obwohl das Land, wie der frühere Verteidigungsminister Volker Rühe meinte, seit der Einheit "von Freunden umzingelt ist", tun sich die mit der neuen Rolle Deutschlands ziemlich schwer. So ist Frankreich geradezu darauf fixiert, seinen Nachbarn wirtschaftlich nicht zu stark werden zu lassen. "Was für uns die Atombombe ist, ist für die Deutschen die D-Mark", hatte François Mitterrand schon vor dem Mauerfall gesagt und die gemeinsame Währung verlangt.

Der Euro aber wurde nicht zu dem Band, das sich seine Väter - EU-Kommissionspräsident Jacques Delors, der damalige Kanzler Helmut Kohl oder Mitterrand - erhofft hatten. Spätestens in der Euro-Krise ab 2010 wurde die Solidarität innerhalb des Währungsverbunds brutalstmöglich getestet. Zwar gelang es Merkel und ihrem Finanzminister Wolfgang Schäuble, die Währung trotz aller Skepsis in Deutschland zu retten. Doch um welchen Preis: Im Süden Europas gilt die Bundesregierung als kalte Vollstreckerin einer inhumanen Sparpolitik, die Millionen Menschen in Arbeitslosigkeit und Armut führt.

Fatal wirkt sich auch die gegenwärtige Schwäche Frankreichs aus. In den fünf Jahren des sozialistischen Präsidenten François Hollande hat das Land einen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Tiefpunkt erreicht. Und Großbritannien, das Deutschland wirtschaftspolitisch näher steht, ist durch den Ausstieg aus der EU politisch fremd geworden. Verlässlicher Partner der Deutschen schienen bis vor Kurzem nur noch die USA zu sein. Das anfangs schwierige Verhältnis zwischen Barack Obama und Merkel wandelte sich fast in eine Traumkonstellation. Seit sich der Atlantik-Graben durch Trumps ruppige Isolationspolitik enorm weitet, ist die politische Elite hier zu Lande auf einmal allein zu Hause.

Der frühere deutsche Außenminister Joschka Fischer glaubt, dass das Ende des Westens schon gekommen ist: "Europa kann die Führungsrolle nicht übernehmen; dazu ist es viel zu schwach und zu zerrissen. Und so wird die westliche Welt, wie wir sie kannten, vor unseren Augen versinken", schrieb er in der "Süddeutschen Zeitung".

So weit muss es aber nicht kommen. Denn Deutschland kann darauf verweisen, dass nach der Katastrophe des NS-Staats die Werte des Westens wie Freiheit, Rechtsstaat, Demokratie und Marktwirtschaft das Land wieder stark gemacht haben. Frankreich, das sich unter Präsident Emmanuel Macron neu erfindet, könnte mit diesen aus dem eigenen Land stammenden Werten wieder Anschluss gewinnen. Und selbst die USA zeigen Widerstandskraft gegen die fatalen Pläne Trumps. Gut möglich, dass seine Alleingänge scheitern. So könnte am Ende die Konstellation eintreten, die Deutschland schon einmal geholfen hat, nur unter anderen Vorzeichen.

(kes)
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