Tallinn Deutsch-französische Annäherung

Tallinn · Beim EU-Gipfel in Tallin traten Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron als ebenbürtige Partner auf.

Emmanuel Macron konnte am Donnerstagabend gleich zweimal aufatmen. Erst stellte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel beim EU-Gipfel in Tallinn in einem Gespräch mit dem französischen Präsidenten hinter die meisten seiner Reformvorschläge für die EU. Und dann versicherte auch noch FDP-Vize Wolfgang Kubicki in einer Talkshow, dass Macron keine Angst vor den Liberalen haben müsse, die 80 Prozent seiner Vorschläge unterstützten. Auch wenn bisher gar nichts über die Angst französischer Präsidenten vor deutschen Liberalen bekannt war: Spätestens jetzt ist klar, dass die Sondierungsgespräche der CDU-Chefin mit FDP und Grünen zumindest auf einem Feld keine Bremswirkung entfalten dürften - der Europapolitik.

Sowohl Merkel und Macron als auch EU-Ratspräsident Donald Tusk kündigten in Tallinn jedenfalls unberührt von den Ereignissen in Berlin schnelle Schritte für die Reformdiskussion in der EU an. Dies betreffe ein breites Themenspektrum von der Euro-Zone über die Verteidigung bis hin zur Asylpolitik, bei der die Bundesregierung gerne schon im Dezember Beschlüsse hätte.

Dabei hatte es zunächst für Verwirrung gesorgt, dass Macron seine große europapolitische Rede nur zwei Tage nach der Bundestagswahl hielt. "Aber wir mussten und wollten eben schon vor der Bildung einer neuen Regierung in Berlin klarmachen, was Frankreich will", erklärt ein französischer Diplomat das Vorgehen. Merkel war nach intensiven Kontakten mit Macron ohnehin nicht überrascht. "Das Verhältnis der beiden ist so, dass man sich gegenseitige Überraschungen ersparen will", wird in Regierungskreisen sowohl in Paris als auch in Berlin betont.

Das ändert nichts daran, dass in Tallinn aufmerksam darauf geachtet wurde, ob Macron Merkel die Führungsrolle in der EU abnehmen und die Kanzlerin nach den schweren Verlusten ihrer Partei bei der Wahl am Sonntag vielleicht als "lahme Ente" behandeln könnte. So zeigt die britische Zeitschrift "Economist" auf ihrem Titelbild Macron im Rampenlicht auf der Bühne, während Merkel dahinter im Schatten steht. Doch in Tallinn war davon nicht viel zu spüren.

Am Ende, so ein baltischer Diplomat, zähle nur, dass Merkel Kanzlerin und Deutschland das ökonomische Kraftzentrum der EU bleibe - was etwa die neuen Arbeitsmarktdaten zeigten. Eine ganze Reihe von nord- und osteuropäischen Staaten sehen Merkel auch jetzt in einer Führungsrolle - gerade in der Debatte mit Frankreich über die Reformen etwa der Euro-Zone. Deshalb kündigte Merkel in der estnischen Hauptstadt auch eigene deutsche Vorschläge an.

Dass der französische Präsident nun mehr Aufmerksamkeit erhalte, werde nicht negativ gesehen, wird zudem im Umfeld Merkels betont. Deutschland bekomme nach Jahren der französischen Schwäche und des Zauderns in Paris vielmehr endlich wieder einen ebenbürtigen Partner an die Seite. Die Kanzlerin hatte sich in den vergangenen Monaten ohnehin dagegen gewehrt, zur "letzten Anführerin der freien liberalen Welt", wie in der "New York Times" formuliert, stilisiert zu werden. Anders als Deutschland ist Frankreich etwa Veto-Macht im UN-Sicherheitsrat und spielt auf der globalen Bühne sowohl politisch als auch militärisch mit. Deshalb bedeutet die Macron-Rede eigentlich nur die Rückkehr zum alten EU-Modus, bei dem Frankreich und Deutschland zwei unterschiedliche Philosophien vertreten - aber beide die EU-Integration vorantreiben wollen. Vereinfacht gesagt: Französische Präsidenten sind zuständig für weitreichende Visionen, Deutschlands Kanzler für Haushaltsdisziplin, Wettbewerbsfähigkeit und Subsidiarität - also die Aufteilung der Kompetenzen zwischen Brüssel und den Mitgliedstaaten.

Das eigentliche Thema des Gipfeltreffens in der estnischen Hauptstadt stand im Schatten der Reformdebatte: Die Regierung des kleinen Baltenstaats, der Vorreiter bei der Digitalisierung ist und derzeit den EU-Vorsitz führt, wollte vor allem die Chancen des Internets in den Mittelpunkt rücken. Merkel drückt hier aufs Tempo: "Wenn wir den digitalen Binnenmarkt nicht schaffen, werden wir vom Rest der Welt abgehängt." Die EU müsse die Kräfte auch auf dem Gebiet der "künstlichen Intelligenz" bündeln. Bislang investiere Europa hier im Vergleich zu Amerika und China zu wenig.

Bei dem Vorhaben, die weltweit operierenden Plattformen wie Google und Apple stärker zu besteuern, deutete sich indes Widerstand an: Während Deutschland und mehrere andere Länder die Kommission drängen, konkrete Steuerpläne vorzulegen, trat der irische Regierungschef Leo Varadkar hart auf die Bremse. "Wenn wir Europa an die Spitze der Digitalisierung führen wollen, sollten wir nicht über höhere Steuern und mehr Regulierung nachdenken." Er deutete an, dass es hier eine Koalition gegen die Pläne geben könnte: "Es sind noch andere Länder nicht einverstanden, etwa die skandinavischen Länder, die wie Irland ganz besonders auf offene Märkte und die Internet-Wirtschaft angewiesen sind."

(RP)
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