Istanbul Der Westen braucht den ungeliebten Erdogan

Istanbul · Es geschieht selten, dass Recep Tayyip Erdogan Sätze sagt, die auch westliche Politiker voll und ganz unterschreiben würden. Etwa, dass eine Demokratie so stark ist, wie Journalisten frei seien. Das hat der türkische Staatspräsident am vergangenen Sonntag, dem "Tag der arbeitenden Journalisten" in der Türkei, tatsächlich behauptet. Misst man seine Aussage an der Wirklichkeit, hören die Gemeinsamkeiten aber schnell auf: Auf der Rangliste zur Pressefreiheit der Organisation "Reporter ohne Grenzen" liegt die Türkei auf Platz 149 von 180 Staaten. Der Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung "Cumhuriyet" und ein Kollege schmoren seit vergangenem Jahr unter anderem wegen Spionagevorwürfen und Terrorverdachts in Untersuchungshaft. Erdogan persönlich hatte Strafanzeige gestellt.

Eine selbstbewusste und zugleich höchst eigene Sicht der Dinge bestimmt von Anfang an die Handlungsmaxime des 1954 in einem Armenviertel Istanbuls geborenen Erdogan, dessen Vater ein georgischer Einwanderer war. Vier Jahrzehnte später wurde er Oberbürgermeister seiner Heimatstadt und stieg 2003 zum Ministerpräsidenten auf. Im August vergangenen Jahres - nach erzwungener Neuwahl - ließ sich Erdogan in direkter Wahl zum Staatspräsidenten der Türkei küren.

Seit Atatürk hatte kein türkischer Politiker so viel Macht wie Erdogan. Und seit Abschaffung des Sultanats im Jahre 1922 hat es keinen gegeben, der seine Macht so prunkvoll demonstrierte. Erdogan liebte es schon, im neuen Protz-Palast in Ankara Hof zu halten, bevor er mit hilfe der von ihm mitbegründeten und stark am Islam ausgerichteten Partei AKP den Umbau des parlamentarischen Systems der Türkei in ein Präsidialregime begann. Nach Beispielen für eine ähnliche Machtansammlung gefragt, entgegnete Erdogan jüngst vielsagend: "Schauen Sie sich Hitler-Deutschland an, dann sehen Sie es."

Doch die Selbstherrlichkeit bröckelt. Der Kurdenkonflikt spaltet das Land, und nun zeigt sich, dass sich Erdogan offenbar in der Einschätzung des IS verspekuliert hat: Lange hoffte Ankara, die islamistische Mörderbande als Helfer im Kampf gegen den syrischen Präsidenten Baschar al Assad einspannen zu können. Ein Fehler, wie sich jetzt herausstellt.

Im Westen hat Erdogan die anfänglichen Sympathien, die dem einstigen Hoffnungsträger galten, spätestens 2013 verspielt, als er im Gezi-Park in Istanbul Regierungskritiker niederknüppeln ließ. Doch bei den Bemühungen um die Begrenzung des Flüchtlingsstroms wurde er zum ungeliebten Umworbenen der europäischen Regierungen: In der Türkei sollen große Auffanglager entstehen - mit Milliarden aus dem Westen. Die Zusammenarbeit gestaltet sich mühsam. Vielleicht aber erwächst aus dem Schock über das gestrige Blutbad eine neue Bereitschaft der Türkei, enger mit den westlichen Verbündeten zusammenzuarbeiten.

(RP)
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