Analyse der vergangenen Wahlen Der wählerische Wähler

Düsseldorf · Lange war die politische Landschaft übersichtlich eingeteilt in rechtes und linkes Lager. Die Blöcke existieren auch weiter, doch verändert sich die Klientel der Parteien – und das Kalkül ihrer Wahlentscheidung.

 NRW-Bürger bei der Landtagswahl am 14. Mai (Archiv).

NRW-Bürger bei der Landtagswahl am 14. Mai (Archiv).

Foto: dpa, fg

Lange war die politische Landschaft übersichtlich eingeteilt in rechtes und linkes Lager. Die Blöcke existieren auch weiter, doch verändert sich die Klientel der Parteien — und das Kalkül ihrer Wahlentscheidung.

Die Zeichen sind widersprüchlich: Während in NRW nach der Wahl CDU und Liberale mit hohen Erfolgsaussichten über eine Koalition verhandeln, die politische Front also weiter zwischen den gewohnten Blöcken verläuft, und SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz die Parole "Merkel oder ich" ausgerufen hat, erkundet der neue Staatspräsident in Frankreich, wie eine Regierung mit Mitgliedern aus unterschiedlichen politischen Lagern funktioniert. Dazu zeigen die Analysen der jüngsten Wahlen in Europa, dass traditionell linke Wählerschichten zu rechten Parteien abwandern, selbst wenn die etwa in Wirtschaftsfragen neoliberale Positionen vertreten, die den Interessen des "kleinen Mannes" kaum entsprechen.

Einerseits gibt es also eine Rückkehr zur alten Übersichtlichkeit mit linkem und rechtem Lager. Gleichzeitig schwindet jedoch die Bindung zwischen Parteien und ihren traditionellen sozialen Milieus. Menschen wechseln auch zwischen entgegengesetzten politischen Welten, und dabei geben Gefühle wie Unzufriedenheit oder Enttäuschung den Ausschlag, nicht mehr das Bewusstsein, einer bestimmten Klasse anzugehören.

Der moderne Konsument bindet sich nicht mehr

Man kann das alles auf die Flüchtigkeit im modernen Leben schieben, auf die grassierende Unverbindlichkeit und allseits geforderte Flexibilität, die sich eben auch in der schwindenden Bindung an politische Ideen niederschlägt. Viele Menschen folgen nicht mehr üblichen Meinungsmustern, haben Patchwork-Überzeugungen, wollen Feministin sein, aber gegen Abtreibung, haben sich mit prekären Arbeitsverträgen arrangiert, fordern aber kürzere Arbeitszeiten. Und wenn sich die Parteien nicht flexibel zeigen, tun es die Wähler.

Man kann das für erfrischenden Pragmatismus und die Abkehr von überkommenen Ideologien halten. Der moderne Konsument möchte in allen Lebensbereichen Individualität beweisen, und so bindet er sich nicht mehr lebenslang an eine Partei, sondern reagiert auf aktuelle Ereignisse, Spitzenkandidaten, Befindlichkeiten. Doch genauso könnte die Abkehr vom Wahlverhalten nach klassischem Muster Beleg dafür sein, dass den Benachteiligten des wirtschaftlichen Systems das politische Bewusstsein abhanden kommt. Man könnte auch sagen, die Hoffnung darauf, etwas ändern zu können.

Das betrifft keineswegs eine einheitliche Gruppe, die man gemeinhin Globalisierungsverlierer nennt und mit Zuschreibungen wie Prekariat oder Ex-Arbeiterklasse zu fassen versucht. Es sind Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten, Bildungsniveaus, Einkommensklassen, die sich gegen den enormen Wandel durch die Globalisierung zu wehren versuchen - weil er sie ihren Job gekostet hat oder weil sie in der Nachbarschaft keine Moschee sehen wollen.

Soziologe Eribon spricht von "entfremdeter Weltanschauung"

"Da vermischen sich ökonomische Vorstellungen wie Angst vor Jobverlust mit gesellschaftspolitischen Ängsten etwa vor dem Einfluss anderer Kulturen", sagt der Berliner Parteienforscher Oskar Niedermayer. Rechtspopulistische Bewegungen in ganz Europa antworteten genau auf diese Gemengelage. Parteien wie die AfD unterschieden nicht zwischen oben und unten wie die Linken, sondern zwischen drinnen und draußen, zwischen Altbürgern und Migranten. "Die Leute interessiert es weniger, ob der Mindestlohn um einen Euro steigt", so Niedermayer, "sie wollen wissen, ob weiter eine Million Flüchtlinge zu uns kommt. Nicht nur aus ökonomischen, sondern aus gesellschaftspolitischen Gründen."

Der französische Soziologe Didier Eribon, der selbst aus einer Arbeiterfamilie stammt, die früher die Kommunisten, heute den rechten Front National wählt, spricht von "entfremdeter Weltanschauung". Viele Menschen hätten keine politischen Begriffe mehr, um ihre Lage zu beschreiben. Wörter wie Klasse, Ausbeutung oder Enteignung spielen keine Rolle mehr, obwohl sie Mechanismen bezeichnen, die weiter in vollem Gange sind. Mit ihnen ist die Idee verschwunden, benachteiligte Klassen könnten gegen ungerechte Verhältnisse ankämpfen. An ihre Stelle ist das Ressentiment getreten, ein "Wir" gegen "Die", Prekariat gegen Elite, Nation gegen Zuwanderer. Doch dieses Denken zielt nicht auf Veränderung der Verhältnisse, sondern bietet Ab- und Ausgrenzung als Lösungsmuster an.

Kampf um die Frage, wer dazugehört

Die Einteilung der politischen Landschaft in rechts und links war ursprünglich ein Zeichen bürgerlicher Emanzipation: Die Ständegesellschaft hatte sich mit der Französischen Revolution erledigt, die Menschen sollten nicht mehr vertikal nach feudaler Hierarchie sortiert werden, sondern sich horizontal im Spektrum der politischen Überzeugungen einordnen. Natürlich geschieht das nie im luftleeren Raum, sondern beeinflusst von Herkunft, Erziehung, Bildung. "Wir wählen Parteien, weil wir in dem Weltbild, das sie vor Augen haben, selbst vorkommen", schreibt Eribon in seinen Reflexionen über den Einstellungswandel seiner Familie.

Selbst wenn sich der Trend der NRW-Wahl fortsetzt und auch bei der Bundestagswahl klar für eines der politischen Lager gestimmt wird, sollte das nicht verdecken, dass sich die Klientel dieser Lager verändert — und das Kalkül der Wähler. Aus der Auseinandersetzung um Gerechtigkeits- und Verteilungsfragen wird mehr und mehr ein Kampf um die Frage, wer dazugehört.

Wenn dieses Denken jedoch die Hoheit gewinnt, haben sich die Populisten durchgesetzt. Denn nicht die Radikalität einer Position kennzeichnet den Populisten, sondern dass er für sich und seine Anhänger Alleinvertretung beansprucht, kämpferisch behauptet, das "wahre Volk" zu sein. Sich das Fremde, das Störende in einer sich rapide wandelnden Welt vom Hals halten zu wollen, ist eine schlichte Strategie. Unabhängig vom politischen Lager ist sie für viele attraktiv geworden.

(dok)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort