Demokratie-Serie (1) Der lange Weg zur Demokratie

Berlin · Woher kommt sie, wohin steuert sie? Die Demokratie ist trotz ihrer offenkundigen Vorzüge eine äußerst sensible Regierungsform. Unsere Redaktion analysiert in einer Serie Geschichte und Zukunft der "Volksherrschaft".

Macht oder Recht? Diese Frage spaltet die Staatsphilosophen bis heute. Für den deutschen Denker Carl Schmitt war es klar. "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet", schrieb der Staatsrechtler 1922 in seiner berüchtigten Schrift "Politische Theologie". Der Staat im Denken Schmitts war vor allem Machtstaat, egal wie er sich begründete. Am Ende dieser logischen Kette stand die mörderische Diktatur Adolf Hitlers, dem Schmitt zeitweise nahestand.

Legitimität statt Macht

Der englische Aufklärer John Locke (1632-1704) fragte indes nicht nach Macht, sondern nach Legitimität. "Keine Regierung kann das Recht auf Gehorsam vonseiten eines Volkes haben, welches ihr nicht freiwillig zugestimmt hat", formulierte der Philosoph in seiner berühmten "Zweiten Abhandlung über die Regierung". Der Satz begründete wie kein zweiter das Recht der Menschen, die eigene Regierung zu wählen. Er ist das philosophische Fundament der modernen Demokratie, um deren Entwicklung bis heute es im ersten Teil unserer Serie geht.

Die Idee der Volkssouveränität und damit der Demokratie entstand in Europa und nicht in den einst viel weiterentwickelten Zivilisationen Chinas, Indiens oder des Osmanischen Reichs. Schon das mittelalterliche Europa zeichnete sich durch institutionalisierte Machtteilung und die Entwicklung festgeschriebener Regeln aus. Der amerikanische Politologe Francis Fukuyama ("Das Ende der Geschichte") sieht im Freiheitsanspruch der Kirche gegen den von Gottes Gnaden eingesetzten Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, also im Investitur-Streit um die Einsetzung der Bischöfe, den ersten Ansatz zu rechtsstaatlichem Denken.

Der zweite Meilenstein ist die Magna Charta aus dem Jahr 1215, die der englische König Johann Ohneland unterzeichnen musste. Sie hatte drei revolutionäre Elemente: die Pflicht des Königs, vor einer Steuererhebung seine Barone um Erlaubnis zu fragen; das Verbot, freie Männer ohne ein Gericht der Standesgenossen in Haft zu halten, und die Bildung eines Kontrollgremiums von 25 Personen, die die Bestimmungen überwachen sollten. Wäre es bei diesem Programm geblieben, wäre England schon sehr viel früher eine Demokratie vielleicht sogar ohne Königtum geworden. Doch der listige Königsberater William Marshall ließ über Johanns Nachfolger Heinrich III. die Magna Charta als königlichen Gnadenakt ausgeben. Damit begründete sie zwar Rechte der Untertanen, kontrolliert wurden sie aber vom König selbst.

 "Die englische Kirche soll frei sein, mit unverminderten Rechten und unverletzten Freiheiten", lautet er der Sätze aus der Magna Charta.

"Die englische Kirche soll frei sein, mit unverminderten Rechten und unverletzten Freiheiten", lautet er der Sätze aus der Magna Charta.

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Der Begriff Volkssouveränität

Die mittelalterliche Philosophie schaffte es also trotz vielversprechender Ansätze nicht, so etwas wie Volkssouveränität, Rechtsstaat oder Demokratie zu Ende zu denken. Dazu waren erst ein wirtschaftlich erstarktes Bürgertum und der Triumphzug der Wissenschaft imstande, die das freie Denken in den Mittelpunkt stellte. In diesem Klima wurden die Dogmen der Kirche herausgefordert sowie der Gedanke der Religions- und Gewissensfreiheit befördert. Die Stunde der Aufklärung war gekommen. Und mit ihr die Frage nach dem richtigen Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten.

Doch sosehr Denker wie Locke, David Hume, der Baron de Montesquieu, Jean-Jacques Rousseau, Thomas Jefferson oder Immanuel Kant den rationalen Staat per Vertrag in den Dienst der Individuen stellen wollten, die Umsetzung dieser Gedanken dauerte nochmals zwei Jahrhunderte. Wieder machte England den Anfang, indem es den wichtigen rechtsstaatlichen Grundsatz "Keine Verhaftung ohne richterliche Anordnung", die berühmte Habeas-Corpus-Akte, 1679 zum verfassungsmäßigen Gesetz machte.

Von da bis zu den unveräußerlichen Menschenrechten der Französischen Revolution war es zwar noch ein großer Schritt, aber die Basis war gelegt. Die Staaten gaben sich nun Verfassungen, die das Recht des Einzelnen gegen einen übermächtigen Staat wahrten - bis hin zum Grundgesetz des Jahres 1949.

Sicher, der wirtschaftliche Aufschwung durch die industrielle Revolution tat ein Übriges, um Bürgermacht und Bürgerrecht zu festigen. Die neue Klasse, die durch Handel und Industrie reich geworden war, hatte ein Interesse daran, dass ihr Eigentum rechtlich geschützt war. Doch mit dem Rechtsstaat wuchs auch der Wille nach Mitwirkung. Seit 1820 rollte die erste Demokratisierungswelle durch Europa und Amerika. Waren es zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestenfalls fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung gewesen, die bei der Bestellung der Parlamente mitreden durften, so war die Wahlgleichheit aller (einschließlich der Frauen) in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts in den meisten Ländern Europas und Amerikas verwirklicht.

Aber es gab auch Rückschläge: den NS-Staat, den Faschismus in Italien und Spanien sowie die kommunistischen Diktaturen in Russland und Osteuropa. Doch bereits nach 1945 - nach zwei Weltkriegen - rollte die zweite Welle der Demokratisierung in Ländern wie Deutschland, Österreich oder Italien. Seit 1970 und erst recht seit dem Fall der Mauer 1989 kamen 85 weitere Länder hinzu, so dass 2010 bereits 60 Prozent aller Staaten mehr oder weniger demokratische Verhältnisse hatten. Zurzeit schwingt das Pendel in die andere Richtung. In Ländern wie der Türkei, Russland oder Ungarn sind starke autoritäre Tendenzen zu beobachten. Und Liberale fürchten, dass auch der künftige US-Präsident Donald Trump in solches Fahrwasser geraten könnte. Trotzdem ist die Demokratisierung eine Erfolgsgeschichte, wenn auch ihr derzeit größter Verehrer, der Politologe Fukuyama, warnt: "Die Tatsache, dass ein System einmal eine erfolgreiche und stabile Demokratie war, heißt nicht, dass die dann auch für immer anhalten muss."

(kes)
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