Analyse Das Spiel mit der Demokratie

Berlin · Wenn vier von sieben im Bundestag vertretenen Parteien nicht regieren wollen, ist etwas faul im Staate. Das Verhalten der Politiker entspricht den Maximalforderungen vieler Wähler.

Politikern wird gemeinhin unterstellt, dass ihnen nichts wichtiger ist, als ein Teil der Regierung zu sein. Macht, Gestaltungsspielraum, Aufmerksamkeit und Statussymbole wie große Ministerbüros oder Dienstwagen sind die Motive für dieses Verhalten. Dafür quälen sie sich durch Wahlkämpfe, unternehmen die Ochsentour in ihren Parteien und stellen das Privatleben hintenan.

Umso merkwürdiger die augenblickliche Situation, in der die meisten der im Bundestag vertretenen Parteien ihre Aufgabe in der Opposition sehen. Die rechtskonservative AfD und die Linkspartei haben jegliche Regierungsbeteiligung von vornherein ausgeschlossen. Im Lichte ihres schlechten Ergebnisses hat sich die SPD und vor allem ihr Parteichef Martin Schulz sofort nach der Wahl in die Opposition verabschiedet. Schließlich hat FDP-Chef Christian Lindner die Sondierungen um eine mögliche Jamaika-Koalition platzen lassen. Und sieht man sich die Lage bei der bayerischen CSU an, so hat man nicht den Eindruck, dass sie darauf brennt, in Berlin Ministerämter zu übernehmen.

Die Konsequenz: Die bisherige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) steht ohne regierungsfähige Mehrheit da. Und es gibt kein Bündnis, das sie ablösen könnte. Es bedarf offenbar jetzt der ganzen Überredungskunst des Bundespräsidenten, "seine" SPD in ein Bündnis mit den Christdemokraten zu bugsieren. Angesichts des Regierungsnotstands verweigern sich die Sozialdemokraten nicht ihrer staatspolitischen Verantwortung. Ein Drang zu den Futtertrögen der Macht sieht allerdings anders aus.

FDP-Chef Lindner hat seinen Machtverzicht wortgewaltig verteidigt. "Irgendeine Regierungsbildung halte ich für unser Land nicht für gut", sagte er dem "Kölner Stadt-Anzeiger". Gern zählt er die Gründe auf, die zu seinem Nein führten: die europäische Einlagensicherung auf Kosten der deutschen Sparer, die Abschaltung von sieben Gigawatt an Kraftwerksleistung auf Kohlebasis, Krediterleichterungen für südeuropäische Länder, neue Umverteilungstöpfe und den mangelnden Abbau des Solidaritätszuschlags.

Tatsächlich waren die Partner sogar dazu bereit, den Liberalen weit entgegenzukommen. So sollten 75 Prozent der Menschen keinen "Soli" mehr zahlen, die CSU wollte sogar einem Einwanderungsgesetz zustimmen, und die Grünen nahmen Abschied von einem festen Ausstieg aus Verbrennungsmotor und Kohletechnologie.

Es ging der FDP offenbar um den bewussten Bruch, um vor ihren Wählern mit reiner Weste dazustehen. Das ist ihr gutes Recht. Niemand kann sie zur Regierung zwingen. Aber eine Regierung kann nicht zustande kommen, wenn alle versuchen, ihre Maximalforderungen durchzusetzen. Dabei stehen die Liberalen nicht allein da. Für AfD und Linke ist es Programm, nie auch nur in kleinsten Nuancen nachzugeben. Meinungsforscher Thomas Petersen vom Institut für Demoskopie in Allensbach sieht darin ein Spiegelbild deren Wählerschaft. Die sei beherrscht vom "politischen Rigorismus", der Vorstellung, "dass die von einem selbst für richtig gehaltenen politischen Konzepte kompromisslos durchzusetzen seien". Tatsächlich fordern nach einer jüngeren Umfrage des Allensbach-Instituts 39 beziehungsweise 43 Prozent der Wähler von Linken und AfD von ihren Parteien, ihre jeweilige Politik "ohne Wenn und Aber" durchzusetzen. Lindner und seine Mannschaft scheinen eine ähnliche Vorstellung von ihrer Wählerschaft zu haben.

Das bisherige Beharren auf Opposition von SPD-Parteichef Martin Schulz geht ebenfalls in diese Richtung, auch wenn die Genossen derzeit ganz erfolgreich versuchen, ihren Vorsitzenden von diesem Weg abzubringen. In politisch komplizierten Zeiten verkauft sich die Reinheit des Programms in der Opposition offenbar besser als Regierungserfolge. "Wir haben es offensichtlich nicht geschafft, unsere traditionelle Wählerbasis zu erhalten, obwohl wir viele Erfolge in der abgelaufenen Legislaturperiode erkämpft haben", sagte Schulz am Tag seiner bitteren Niederlage bei der Bundestagswahl im September. Das wirkt nach.

Regieren ist unpopulär geworden, die Suche nach dem politischen Kompromiss erscheint wenig sexy, wenn man gleichzeitig als Oppositionspartei Furore machen kann. Dazu beigetragen haben der gewaltige Flüchtlingszustrom in den Jahren 2015 und 2016 sowie die gigantischen Euro-Rettungsschirme. Sich diesen Herausforderungen zu verweigern, bringt mehr politischen Ertrag als Kompromiss und Mitarbeit. Und Menschen, die sonst wenig politikinteressiert sind, können hier ein "expressives Verhalten" zeigen, wie es die US-Ökonomen Geoffrey Brennan und Loren Lomasky nennen. Danach kann ein vermeintlicher oder tatsächlicher Missstand plötzlich eine kompromisslose Haltung auslösen, wenn Wähler bei einem polarisierenden Thema auf Gleichgesinnte treffen. Wirtschaftswissenschaftler Thomas Apolte aus Münster spricht von einer "schleichenden Radikalisierung", die "Beteiligte und Beobachter gleichermaßen überrascht".

Und dieser Bazillus scheint auch einwandfrei demokratische Parteien wie die FDP sowie SPD-Chef Schulz befallen zu haben. Der will jetzt vorsorglich seine Mitglieder über alle möglichen Regierungsbeteiligungen abstimmen lassen. Im Ergebnis kommt dies alles einer Verformung der repräsentativen Demokratie gleich, die vom Kompromiss lebt und Koalitionen möglich machen soll. Vielleicht sind es wieder einmal Sozialdemokraten aus der Mitte der Partei, die dieses Spiel durchbrechen und ihre Verantwortung wahrnehmen - wie schon bei den Hartz-IV-Reformen oder der Finanzkrise. Gedankt hat es ihnen bisher der gemäßigte Wähler nicht.

(kes)
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