Analyse Das Europa der Werte

Der Europäische Rat hat sich zu einem elitären Club der Mächtigen entwickelt, bei dem der Bürger das Gefühl hat, er kann keine Verantwortlichen für Fehler mehr finden. Sollen die Briten bei diesen Institutionen bleiben?

Analyse: Das Europa der Werte
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Es gibt nichts mehr zu sagen zu den Vor- und Nachteilen, die ein Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union (EU) bedeuten würde. Alle Argumente sind ausgetauscht - die politischen, die ökonomischen, die gesellschaftlichen. Aber in der Politik gibt es Zeitpunkte, in denen sich jahrzehntelange Entwicklungen in einen Augenblick verdichten, in dem dann die Richtung für die nächsten Jahrzehnte bestimmt wird.

Der gescheiterte Putsch in Spanien am 23. Februar 1981 war so ein Augenblick, der 9. November 1989, als die Mauer fiel, ebenso. Und auch der Anschlag des 11. September 2001 diktierte die US-Politik für die nächsten Jahrzehnte. Schließlich gehört die Pleite der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 in diese Reihe. Ein ähnliches Datum wird die Entscheidung der Briten sein, in ihrem heutigen Referendum über den Austritt, den Brexit, oder den Verbleib in der EU abzustimmen. Wird Großbritannien Teil der Werte- und Schicksalsgemeinschaft des alten Kontinents bleiben oder einen Sonderweg einschlagen?

Es ist gut, dass die Bürger der Insel darüber das letzte Wort haben. Das ist Demokratie im Ursinn, und die Briten sind seit der Etablierung der Magna Carta im Jahr 1215 gewissermaßen die Erfinder dieser Herrschaftsform, die immer auch Herrschaftsform ist und nicht das Volk herrschen lässt, ihm aber das letzte Wort einräumt. Es gibt in Großbritannien eine antieuropäische Haltung, die viel mit dem insularen Charakter des Landes, aber auch mit seiner großen geschichtlichen und demokratischen Tradition zu tun hat.

Die sehen einige zu Unrecht durch die EU gefährdet. Sie wollen die Gängelei aus Brüssel abschneiden, über ihr eigenes Geld bestimmen und nicht andere Länder über die Sicherheit ihrer Grenzen entscheiden lassen. So die wichtigsten Argumente der Brexit-Anhänger. Doch davon sollten sich die Briten freimachen, diese Engstirnigkeit haben sie nicht nötig. Engländer, Schotten und Waliser haben die Demokratie evolutionär weiterentwickelt, haben Frauenstimmrecht, Sozialgesetzgebung und Parlamentarismus vorbildlich in Kraft gesetzt und heldenhaft die Tyrannei Nazi-Deutschlands niedergerungen. Wer so eine Geschichte hat, muss aber auch nicht kleinmütig um Rezessionsprozente oder Börsenwerte besorgt sein, die die Brexit-Gegner ins Feld führen, sondern kann frei entscheiden, welche Zukunft er will.

Europa macht es den Briten nicht leicht. Die bürokratische und wenig kontrollierte Regulierungsbehörde EU-Kommission mit einem schwachen Präsidenten namens Jean-Claude Juncker an der Spitze passt wenig zum parlamentarischen System Großbritanniens, wie auch andere nationale Volksvertretungen ihre Schwierigkeiten mit der Brüsseler Behörde haben. Dem Europäischen Parlament fehlt die Öffentlichkeit, und so versuchen die Abgeordneten, mit zweifelhaften Hilfs- und Subventionsprogrammen ihre Bedeutung zu verstärken. Der Europäische Rat mit 28 an ihren Interessen orientierten Regierungen hat sich zu einem elitären Club der Mächtigen entwickelt, bei dem der Bürger das Gefühl hat, er kann keine Verantwortlichen für Fehler mehr finden. Sollen die Briten bei diesen Institutionen bleiben?

Ja, sie sollen es. Denn diese Institutionen sind das Werk von Nationen, die nach zwei Weltkriegen festgestellt haben, dass noch so unvollkommene Gremien besser sind als keine. Denn in diesen Gremien hat sich die Werteordnung Europas gleichsam manifestiert. Die Herausforderungen des Terrorismus, der globalen Umweltgefährdung, der weltweiten Migration lassen sich nicht mehr bilateral behandeln, die Fragen von Wirtschafts- und Wettbewerbsordnung ohnehin nicht. In diesen Gremien versichert sich Europa, dass ihm Menschenrechte (siehe Türkei), Minderheitenrechte (siehe den Anschlag in Orlando), Flüchtlingskatastrophen (siehe Mittelmeer) eben nicht egal sind. Das gilt weder für die Vereinten Nationen noch für das Treffen der G 20-Staaten.

Vor allem bei Letzteren geht es nur um Interessen- und Machtpolitik. Auf mehr können sich Länder wie die USA, China, Indien, die EU, aber auch Saudi-Arabien oder die Türkei nicht einigen. Hier gibt es keine Wertegemeinschaft, keine Einheit in der Vielfalt wie in Europa. Übrigens auch kein gemeinsames Erbe. Wenn die Briten also diese Institutionen verlassen, verabschieden sie sich auch aus dieser Tradition, letztlich aus ihrer eigenen Tradition. Denn Großbritannien war immer mit Europa eng verbunden - kulturell, sprachlich, religiös und wirtschaftlich. Für einen solchen Moment braucht es freilich Führungspersönlichkeiten, die den Augenblick nutzen, wenn sich in ihm das ganze politische Geschehen verdichtet. Sie brauchen dazu Mut, Weitsicht, Realitätssinn, Entscheidungsfreude und Machtinstinkt. Beim Putsch in Spanien galt das für den gestürzten Ministerpräsidenten Adolfo Suárez und König Juan Carlos, am 9. November für Helmut Kohl und Willy Brandt, bei der Lehman-Pleite für Barack Obama, Angela Merkel und Peer Steinbrück.

Dass es auch schiefgehen kann, zeigt der 11. September und das armselige Krisenmanagement des US-Präsidenten George W. Bush und seiner Verbündeten. David Cameron, der britische Premierminister, der zuletzt wenig politische Fortüne besaß, könnte nach einem Nein zum Brexit endlich an Statur gewinnen, wenn es ihm als Sieger gelingt, das zerrissene Land wieder zu einen. Steigt Großbritannien jedoch aus, ist Cameron nur noch eine Randnotiz in der Geschichte seines Landes.

(kes)
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