Gastbeitrag des Botschafters Netschajew "Russland hat mit dem Fall Skripal nichts zu tun"

Berlin · Russlands Botschafter weist in einem Gastbeitrag die Beteiligung seines Landes an dem mutmaßlichen Giftanschlag auf den ehemaligen Doppelagenten Sergej Skripal in Großbritannien zurück.

 Der russische Botschafter in Berlin, Sergej Netschajew (Archivbild).

Der russische Botschafter in Berlin, Sergej Netschajew (Archivbild).

Foto: dpa, mkx gfh

Wie es offiziellen Erklärungen zu entnehmen ist, die nach der Entscheidung über die Ausweisung russischer Diplomaten aus Deutschland folgten, wird Russland vorgeworfen, zu einer Zusammenarbeit im Fall Skripal nicht bereit zu sein. Wir werden aufgefordert, unserer Verantwortung gerecht zu werden, eine konstruktive Rolle einzunehmen und unserer Aufklärungspflicht nachzukommen. Diese Erklärungen zeugen entweder von einer unzureichenden Informiertheit oder von Voreingenommenheit. Die russische Position dazu wurde mehrmals auf allen möglichen Ebenen dargelegt.

Seit Anbeginn behaupten wir, dass Russland nichts mit dem Vorfall in Salisbury zu tun hat, und dass wir nicht einmal ein hypothetisches Motiv hatten, ein derartiges Verbrechen zu verüben. Wir erklärten uns öffentlich bereit, mit Großbritannien und der Organisation für das Verbot chemischer Waffen nach Maßgabe der Verfahren der Chemiewaffenkonvention zusammenzuarbeiten.

Dabei liegt es auf der Hand, dass eine solche Zusammenarbeit, wenn sie alle bestehenden Fragen beantworten soll, einen Zugang zu den Ermittlungsakten voraussetzt, einschließlich der Proben des chemischen Stoffes, auf den man sich in London bezieht. Aber all unsere Vorschläge wies die britische Seite zurück und forderte von uns nur eins: Wir sollten uns schuldig bekennen und büßen.

Wir werden uns aber für den Einsatz eines Giftstoffs in Salisbury nicht schuldig bekennen, da wir einen solchen nicht begangen haben. Es ist aussichtslos, mit uns eine Sprache der Ultimaten zu sprechen. Es wird auch nicht in Ordnung sein, wenn die Ergebnisse der laufenden Ermittlungen an das Urteil angepasst werden, das die Briten zufriedenstellt und das sie bereits verkündet haben. So war es auch früher in den Fällen Litwinenko, Beresowskij und anderer russischer Staatsbürger, die unter rätselhaften Umständen in Großbritannien ums Leben kamen und weiter kommen (Fall Gluschkow).

Ich werde keinen Hehl daraus machen, dass uns die Haltung von jenen unserer Partner verwundert und enttäuscht, die sich voll auf die Aussagen Londons verlassen, anstatt zu einer sorgfältigen Untersuchung gemeinsam mit Russland beizutragen — und mehr noch, Schritte einleiten, die zwangsläufig zur Verschärfung bilateraler Beziehungen führen werden. Ohne jeglichen Grund, ohne Rücksicht auf die Unschuldsvermutung. Schlüsse über die angebliche Verantwortung Russlands wurden im Fall Skripal ohne Einsicht in die Ermittlungsakten gezogen, mit Hinweis ausschließlich auf fremde Stellungnahmen und Mutmaßungen sowie auf heikle Formulierungen wie "höchstwahrscheinlich" und "es gibt keine andere plausible Erklärung".

Das ist ein Novum im völkerrechtlichen und juristischen Sinne sowie in der Verhaltensweise unserer europäischen Partner, die sich früher immer zum Primat des Rechts bekannt haben. Wir müssen feststellen, dass unter dem Druck von Washington und London jemand nach ihrer Pfeife tanzt. Das ist zu bedauern.

Was die Aussage betrifft, es gebe "keine anderen plausiblen Erklärungen": Viele Experten, darunter in Deutschland, wurden bereits darauf aufmerksam, dass der Skandal durchaus der Regierung von Theresa May in die Hände spielt, die bis vor Kurzem schwerwiegende innerpolitische Schwierigkeiten erlebte, unter anderem im Kontext des Brexits. Im Fall Skripal bot sich den britischen Behörden die Möglichkeit, die Aufmerksamkeit von den inneren Problemen abzulenken, sich die Solidarität internationaler Partner zu sichern, Rankings der regierenden Partei zu erhöhen und einen "Kreuzzug" gegen unser Land kurz vor der Präsidentenwahl und der Fußball-WM anzuführen, die seinerzeit an Russland und nicht Großbritannien vergeben wurde. Außerdem ließ die Wirksamkeit der vorherigen "Gruselgeschichten" nach, die westliche Sanktionen ausgelöst hatten. Man brauchte anscheinend einen neuen Anlauf.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit vermuten wir, dass es Russland im Fall Skripal mit einer frechen, grob fabrizierten antirussischen Provokation zu tun hat. Dass britische Geheimdienste darin verwickelt sind, ist nicht auszuschließen, insbesondere angesichts einer großen Menge von Fragen, die Großbritannien selbst für die engsten Verbündeten nicht beantworten kann oder darf.

Welche Beweise hat London dafür, dass die Russische Föderation in die Vergiftung verwickelt ist? Wozu sollte Russland einen Anschlag mit chemischen Waffen auf Sergej Skripal durchführen, der legitim, mit Genehmigung von Behörden, das Land verlassen hatte? Warum weigert sich London, mit Russland in diesem Fall zu kooperieren? Wie ist es zu erklären, dass der angeblich verwendete gefährliche Kampfstoff keine zahlreichen Opfer nach sich gezogen hat? Warum bleibt die Ermittlung eines gravierenden Vorfalls, der eine große Gefahr für die Einheimischen darstellt, für die Öffentlichkeit verborgen? Warum wurde die Vergiftung der Skripals und deren Begleitumstände mit Aufzeichnungen der überall installierten Videokameras nicht dokumentiert? Welche Antidote wurden den Opfern verabreicht und wieso hatten britische Ärzte diese in Griffnähe, wobei der eingesetzte Nervengiftstoff angeblich ganz spezifisch war?

Wann und auf welchem Wege erhielt man in London die Informationen über das Programm, das sie selbst als "Nowitschok" bezeichnen? Wurden im britischen militärchemischen Labor in Porton Down, das sich in unmittelbarer Nähe von Salisbury befindet, genannte Giftstoffe hergestellt oder untersucht? War es ein Zufall, dass man in Porton Down kurz vor der Vergiftung der Skripals Manöver durchführte, wo die Maßnahmen zur chemischen Dekontamination geübt wurden? Es wäre wünschenswert, Antworten auf diese und viele andere Fragen zu bekommen. Dennoch ist London anscheinend nicht sonderlich daran interessiert, unmittelbare Täter dieses Verbrechens zu überführen, nach ihnen zu fahnden und deren Motive aufzuklären. Es ist inzwischen mit politischen Deklarationen beschäftigt. Höchstwahrscheinlich, weil man die Antworten auf alle Fragen bereits kennt.

Der Autor (64) ist seit Anfang des Jahres russischer Botschafter in Berlin.

(RP)
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