Analyse Wie Russland seine Zukunft verspielt

Moskau · Das junge Bürgertum rebelliert zunehmend gegen das System Putin. Jeder fünfte Russe denkt daran, sein Land zu verlassen.

Youtube zeigt prügelnden Polizisten in Moskau
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Unmittelbar vor Angela Merkels Besuch in Moskau ist in Russland ein neues Gesetz in Kraft getreten: Jeder Russe, der mit einer internationalen Organisation zusammenarbeitet, kann künftig für bis zu vier Jahre ins Gefängnis kommen. So will es das neue Gesetz über Hochverrat. Es greift dann, wenn die internationale Organisation "Aktivitäten gegen die Sicherheit Russlands" plant — ein dehnbarer Begriff. Spricht etwa ein Menschenrechtler mit einem westlichen Journalisten über die Zu stände in Gefängnissen, oder enthüllt ein Wahlhelfer ausländischen Beobachtern Manipulationen bei der Stimmenauszählung, dann kann das als Hochverrat ausgelegt werden.

So sind die Verhältnisse in dem Land, das die Bundeskanzlerin heute für acht Stunden besucht. Und der Gummi-Paragraf über Hochverrat ist nur Teil einer ganzen Serie von repressiven Gesetzen, die in den vergangenen Monaten verabschiedet wurden. Sie sollen den wachsenden Widerstand unterdrücken. Doch die Umwälzungen, die sich in der russischen Gesellschaft vollziehen, scheinen unumkehrbar.

Nach zwölf Jahren Putin-Herrschaft hat sich die Stimmung gedreht. In Russland ist ein neues, selbstbewusstes Bürgertum entstanden. Es sind gut ausgebildete junge Leute, die sich mit der Mittelschicht in westlichen Ländern vergleichen. Sie ärgern sich über die Ineffizienz der staatlichen Einrichtungen, über den Machtmissbrauch einer korrupten Obrigkeit, die sich Justiz und Polizei einverleibt hat. Sie rebellieren gegen die Willkür von Beamten und Polizisten und dagegen, dass sie ihr Recht nicht vor Gericht einfordern können.

Erschreckend viele Russen sehen in ihrem eigenen Land keine Perspektive mehr: 22 Prozent denken an Auswanderung, bei Befragten unter 40 Jahren liegt die Quote sogar bei 68 Prozent. Mittlerweile sind nach einer Umfrage eines Moskauer Meinungsforschungsinstituts 57 Prozent der Russen davon überzeugt, dass ihr Land dringend Reformen braucht. Jeder Fünfte glaubt, das Machtsystem müsse grundlegend geändert werden. Selbst unter denjenigen, die bei der Präsidentenwahl für Wladimir Putin gestimmt haben, sind viele bereit, für Veränderungen auf die Straße zu gehen.

Noch vor zwei Jahren waren es wenige Hundert, die gegen das System demonstrierten. Im vergangenen Winter bekamen die Kreml-Gegner bis zu 100 000 Menschen auf die Beine. Zwar ist die Zahl der Protestler unter dem Eindruck von Repressionen und Verhaftungen momentan zurückgegangen. Aber selbst ein Kreml-Insider wie der ehemalige Vize-Premier Anatoli Tschubais, heute Chef der Technologiebehörde Rosnano, prophezeit: "Bald werden es eine halbe Million Demonstranten sein."

Auch das Kapital verlässt das Land: 64 Milliarden Dollar (etwa 52 Milliarden Euro) wurden 2011 aus Russland abgezogen. In einem Wirtschaftsreport der Weltbank steht das Land auf Platz 123 — hinter Uganda. Das Wirtschaftswachstum wird sich in diesem Jahr nach einer Prognose der Europäischen Bank für Wiederaufbau von vier auf 3,2 Prozent verringern.

Angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung liegen bei den Mächtigen im Kreml die Nerven blank. "Putin hat Angst, überflüssig zu werden", attestiert der einstige Putin-Berater Gleb Pawlowski. Das könnte erklären, warum es seit dem Ende der Sowjetunion in Russland nicht mehr solche Repressionen gegen Andersdenkende gegeben hat wie in den vergangenen Monaten.

Der Druck nach innen wird außenpolitisch begründet: Hinter praktisch jeder Gesetzesnovelle steckt das alte sowjetische Hirngespinst, jeder Widerstand sei vom Ausland organisiert. So müssen sich russische Nichtregierungsorganisationen, die Geldgeber im Ausland haben, als "ausländische Agenten" registrieren lassen. Das wenig schmeichelhafte Etikett muss auf allen Publikationen lesbar aufgedruckt sein. Die amerikanische Hilfsorganisation USAid verließ daraufhin das Land.

Kürzlich wurde ein Oppositioneller entführt und offenbar unter Folter gezwungen, eine Selbstbezichtigung zu schreiben. Ihm drohen nun mehrere Jahre Haft wegen Planung eines Umsturzes. Damit hat die Verfolgung Andersdenkender in Russland eine neue Dimension erreicht.

(RP/pst)
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