Großbritannien droht mit Sanktionen Wie Russland bestraft werden könnte

London · Großbritannien bereitet unter Berufung auf die UN-Charta Vergeltungsmaßnahmen wegen des Giftanschlags auf britischem Boden vor - darunter auch Cyber-Attacken, einen WM-Boykott und finanzielle Sanktionen.

 Russlands Präsident Wladimir Putin.

Russlands Präsident Wladimir Putin.

Foto: dpa, AZ htf

Auf einen russischen Ex-Geheimagenten und seine Tochter wird auf britischem Boden in aller Öffentlichkeit ein Mordanschlag mit einem tückischen Nervengift verübt. Die Substanz, ein in der Sowjetunion entwickelter militärischer Kampfstoff, ist so komplex und so selten, dass die Spuren ganz klar nach Russland führen. Für die britische Regierung gibt es deswegen nur zwei Möglichkeiten: Entweder wurde die Attacke im Auftrag des russischen Staates ausgeführt. Oder aber Moskau hat die Kontrolle über eine extrem gefährliche Mixtur aus seinem C-Waffenarsenal verloren. Kurz: In jedem Fall liegt die Verantwortung beim Kreml.

Dort will man mit dem Anschlag zwar nichts zu tun haben, aber russische Dementis genießen bei den Briten keine große Glaubwürdigkeit, gibt es doch einen Präzedenzfall: 2006 wurde Alexander Litwinenko, ebenfalls ein zu den Briten übergelaufener russischer Agent, in London mit radioaktivem Polonium vergiftet. Im selben Jahr hatte das russische Parlament die Ermordung von Agenten im Ausland explizit genehmigt. Ein richterlicher Untersuchungsbericht kam 2016 zu dem Ergebnis, dass der russische Geheimdienst FSB den Mord in Auftrag gegeben hatte und die Operation "sehr wahrscheinlich" von Präsident Wladimir Putin gebilligt worden war.

Der Fall Litwinenko führte zu einer diplomatischen Eiszeit zwischen London und Moskau. Großbritannien wies russisches Botschaftspersonal aus, Russland revanchierte sich, indem es ebenfalls Diplomaten zum Verlassen des Landes aufforderte. Doch die damalige Konfrontation zwischen den beiden Ländern dürfte harmloses Geplänkel gewesen sein im Vergleich mit dem Konflikt, der jetzt droht. Premierministerin Theresa May hat bereits angekündigt, dass die Sanktionen gegen Russland dieses Mal weit härter ausfallen würden. Und zwar nicht nur, weil die Russen aus britischer Sicht Wiederholungstäter sind. Sondern vor allem, weil beim Gift-Anschlag auf Sergej Skripal und seine Tochter Julia Hunderte britische Staatsbürger in Lebensgefahr geraten sind.

Sollte Russland keine glaubhafte Erklärung zu dem Vorgang abgeben - womit in London jeder rechnet -, werde ihre Regierung, so hat es May angekündigt, "schlussfolgern, dass diese Aktion gleichbedeutend mit unrechtmäßiger Gewaltanwendung des russischen Staates gegen Großbritannien ist". Diese Wortwahl hat es in sich, denn sie bedeutet, dass London sich auf Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen berufen könnte, die das Recht auf legitime Selbstverteidigung einräumt. Damit schafft die britische Regierung die rechtlichen Grundlagen für einen Gegenschlag.

Wie der aussehen könnte, darüber wird in Großbritannien bereits heftig spekuliert. May will am Mittwoch im Unterhaus bekanntgeben, wie ihre Regierung zu reagieren gedenkt. Die Ausweisung von Diplomaten gilt als erster möglicher Schritt, und dieses Mal dürfte es nicht mit der zweiten Garnitur getan sein. Denkbar ist, dass der russische Botschafter höchstpersönlich die Koffer packen muss, woraufhin vermutlich Russland dessen britischen Amtskollegen des Landes verweisen würde.

Angeblich hat die Premierministerin bereits grünes Licht für noch weitergehende Maßnahmen gegeben. So gilt als möglich, dass der britische Geheimdienst einen Cyberangriff startet, um Russland für den Giftgasanschlag zu bestrafen. Potenzielle Ziele gibt es demnach reichlich, darunter vor allem russische Netzwerke, die Propaganda im Internet verbreiten, oder die berüchtigten "Trollfabriken", die versuchen, über die Verbreitung von Falschnachrichten andere Länder zu destabilisieren. Im Gespräch ist offenbar auch, dem Kreml-nahen russischen TV-Sender RT die britische Sendelizenz zu entziehen.

Bereits jetzt scheint nur noch schwer vorstellbar, dass britische Minister zur Fußball-WM nach Russland reisen, die am 14. Juni beginnt. Offiziell ist bisher nicht die Rede von einem Boykott des Turniers durch die englische Nationalmannschaft, aber die öffentliche Debatte darüber kocht bereits hoch. Sollte sich der englische Fußballverband tatsächlich zu einem Boykott durchringen, würde dies sicherlich den Druck auch auf andere europäische Länder erhöhen, ebenfalls eine WM-Absage in Betracht zu ziehen.

Ferner könnte Großbritannien versuchen, die Macht-Clique rund um Präsident Putin gezielt zu treffen. Derzeit wird im Oberhaus ein Geldwäschegesetz beraten, das dafür die nötige Handhabe liefern könnte. May könnte ihren bisherigen Widerstand gegen die Aufnahme eines Zusatzartikels aufgeben, der rund 50 russische Staatsbürger namentlich benennt, die in den USA nach dem "Magnitzky Act" wegen schwerer Menschrechtsverletzungen auf einer Schwarzen Liste stehen. Ihnen könnte künftig die Einreise nach Großbritannien verweigert werden, ihr teilweise beträchtliches Vermögen dort könnte eingefroren werden.

Als letzte Stufe der Eskalation könnten die Briten zu einer radikalen Maßnahme greifen: Russland könnte als staatlicher Terrorpate gebrandmarkt werden - eine Einstufung, die wiederum den Weg freimachen würde für weitere, sehr einschneidende Sanktionen. So könnte London darauf dringen, dass russische Banken den Zugang zum Swift-System und damit zu den globalen Finanzströmen verlieren. Auf diese Weise wurde etwa der Iran unter dem internationalen Sanktionsregime jahrelang isoliert - mit gravierenden Folgen für seine Volkswirtschaft.

Ob man in London so weit gehen will, ist indes fraglich. Das Land, das gerade unter Schmerzen seinen EU-Austritt verhandelt, könnte einen solchen Schritt nicht ohne Rückendeckung seiner europäischen Partner und der USA tun. Und ob Theresa May darauf zählen dürfte, ist zumindest ungewiss.

(bee)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort