Interview mit Dieter Graumann "Warum gibt es keine Welle der Sympathie mit uns Juden?"

Berlin · Im Angesicht von "widerlichstem Judenhass" fragt der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, im Interview mit unserer Redaktion, wo denn die Unterstützung und der Beistand der Zivilgesellschaft sind.

 Der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Dieter Graumann.

Der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Dieter Graumann.

Foto: afp, vel

Viele jüdische Menschen seien so verunsichert, dass sie sich fragten, ob es wieder Zeit sei, die Koffer zu packen und Deutschland zu verlassen.

Wie erleben Juden den Sommer 2014 in Deutschland?

Graumann Es laufen schreckliche Schockwellen von Judenhass durch unser Land. Ich habe mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht vorgestellt, dass ich so etwas erleben würde. Widerliche, antisemitische Slogans hören wir auf deutschen Straßen. In den sozialen Netzwerken bricht sich eine Welle von Hetze und Häme gegen Juden Bahn, das alles übertrifft, was wir befürchtet haben. Synagogen werden angegriffen. jüdische Menschen werden bedroht, das ist alles ganz fürchterlich.

Welche Konsequenzen ziehen die jüdischen Gemeinden daraus?

Graumann Die Gemeinden haben wenig Handlungsspielraum. Aber ich habe noch nie so viele Fragen von besorgten jüdischen Menschen bekommen. Mehrere hundert wollen von mir wissen: Können wir hierbleiben oder müssen wir wieder die Koffer packen und Deutschland verlassen? Das habe ich schon viele Jahre nicht mehr gehört, und nun stellen Juden in Deutschland sich immer wieder diese Frage. Wir sind betroffen und wir sind getroffen. Wenn auf deutschen Straßen gegrölt wird, dass Juden vergast, verbrannt, geschlachtet werden sollen, dann hat das mit Gaza und israelischer Politik sicherlich überhaupt nichts zu tun. Das ist der widerlichste Judenhass, den man sich vorstellen kann.

Wie erklären Sie sich diese Welle, die aus dem Nichts gekommen zu sein scheint?

Graumann Das kam nicht aus dem Nichts. Es gab schon immer einen Bodensatz an Antisemitismus. Aktueller Aufhänger ist der Konflikt in Gaza. Aber das ist nicht die Ursache. Ich bin der Überzeugung, wer wegen Israel zum Antisemiten wird, der war längst einer, der nutzt die aktuelle Debatte nur als Vorwand. Natürlich gehen jetzt die Emotionen hoch. Aber das Wort "Jude" wird auf deutschen Schulhöfen schon seit Jahren als Schimpfwort benutzt — und das sehr oft von muslimischen jungen Menschen. Die allermeisten Muslime in Deutschland suchen Harmonie und Frieden. Und wir wollen ihre Nähe und ihre Freundschaft. Es gibt jedoch auch radikale Islamisten, und gegen die wird zu wenig getan von den muslimischen Verbänden. Die vielen friedfertigen Muslime müssten mehr dagegen tun, dass ihre Religion von radikalen Islamisten missbraucht wird.

Wie kann denn das Rad des überbordenden Antisemitismus zurückgedreht werden?

Graumann Zunächst ist festzustellen, dass wir sehr viel Solidarität von der Politik in Deutschland bekommen haben, allen voran vom Bundespräsidenten in sehr warmherzigen, überzeugenden Worten. Auch die Kirchen und die Zeitungen im Land haben sich klar und vorbildlich positioniert. Das würdigen wir sehr. Aber das sind die "politischen Eliten", und wir fragen uns: Wo sind die normalen Menschen im Land? Wo sind überhaupt die Menschen? Warum gibt es keine Welle der Solidarität mit uns Juden angesichts der Welle von Antisemitismus? In Sonntagsreden heißt es doch immer, dass wir dazugehören, dass wir Teil der Gesellschaft sind. Warum zeigt man uns das jetzt nicht? Warum lässt man uns so hängen? Wir haben das Gefühl, mit unseren Sorgen allein gelassen zu werden. Jeder normale Mensch müsste doch verstehen: Wer uns bedroht, bedroht ihn auch, denn das sind Angriffe auf die Freiheit und die Toleranz in diesem Land. Unsere Freiheit ist Eure Freiheit! Ich spüre zu wenig Zuspruch aus der Zivilgesellschaft. Das ist doch jetzt die Stunde dafür.

Haben Sie die Hoffnung, dass sich die Lage beruhigt, wenn sich der Nahostkonflikt beruhigt?

Graumann Mag sein. Aber was jetzt aufgebrochen ist, das ist nun einmal da. Wir müssen jetzt klug handeln. Für die jüdische Gemeinschaft gilt: Resignation und Kapitulation wären die falschen Antworten. Es wäre auch ein Triumph für unsere Feinde, und diesen Triumph werden wir ihnen nicht gönnen. Im Gegenteil: Wir dürfen uns nicht den Mut nehmen und uns nicht einschüchtern lassen. Wer darauf wartet, wird ewig warten. Ich habe deshalb einen Brief an alle jüdischen Gemeindemitglieder in Deutschland geschrieben und darin klar gemacht: Wir bleiben, was wir immer waren: Bewusste und selbstbewusste Juden, und unser Judentum tragen wir nicht als Last, sondern mit unbeugsamem Stolz!

Viele setzen Juden in Deutschland mit Israel gleich — wie kommen wir zu einer Differenzierung?

Graumann Ich kann nicht korrigieren, wenn andere Fehler machen. Wir sind Juden in Deutschland und wir sind keine Israelis. Wir sind auch nicht die Vertreter der Israelis. Wahr ist aber auch, dass die allermeisten von uns gerade nicht neutral sind, wenn es um Israel geht. In unseren Herzen sind wir bei den Menschen in Israel, und wenn Israel in der Existenz bedroht, beschossen und ungerecht behandelt wird, dann erwacht unser Beschützerinstinkt. Aber das darf doch nicht dazu führen, dass man uns als Juden hier mit Hetze, Hass und Häme verfolgt.

Haben Sie Erwartungen an die Regierung, an die Schulen, noch intensiver darüber aufzuklären, wie es früher war in Deutschland?

Graumann Ich habe mich im Moment über die Regierung nicht zu beklagen. Mehr Erziehung kann man immer fordern, aber was sich jetzt Bahn bricht, muss schon immer da gewesen sein. Deshalb denke ich, dass sich große Teile der Gesellschaft in Deutschland mehr rühren müssen und uns nicht allein lassen dürfen. Die Beunruhigung in den jüdischen Gemeinden ist sehr stark, aber umso wichtiger ist das Signal: Wir lassen uns bestimmt nicht unterkriegen!

(spol)
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