US-Präsidentschaftskandidat Das Phänomen Bernie Sanders

Portsmouth · Bernie Sanders Auftritte haben immer etwas von einem Rockkonzert. Das Publikum ist jung und enthusiastisch. Der 74-jährige Senator aus Vermont mit schütterem grauen Haar und dröhnender Stimme ist ein ungewöhnlicher Anführer einer Jugendbewegung. Und das hat seine Gründe.

US-Präsidentschaftskandidat: Das Phänomen Bernie Sanders
Foto: ap, JDA

Der Kandidat hat die Hände auf die Pultkante gelegt, er beugt sich weit nach vorn und ruft mit heiserer Stimme: Los, Leute, lasst uns einen kleinen Wettbewerb starten. Wer von euch hat die höchsten Studienschulden?" "Dreiundfünfzig!", schallt es durch die Sportarena des Great Bay Community College in Portsmouth. "Siebenundachtzig!" "Einhundert!"

Da gehe einer mit hunderttausend Dollar Studienschulden ins Berufsleben, ruft Bernie Sanders, als der skurrile Wettstreit beendet ist. Da werde einer bestraft dafür, dass er durch Bildung voranzukommen versuche. In Deutschland, in Skandinavien, dort kenne man solche Strafen nicht. "Und vor 40, 50 Jahren gab es mal ein Land namens Vereinigte Staaten, in dem die Universitäten praktisch kostenlos waren."

Ein blaues Spruchband verspricht eine Zukunft, an die sich glauben lässt — "A future to believe in". Die meisten in der Arena sind jünger als dreißig. Der Slogan, das Publikum, beides lässt an den Barack Obama des Jahres 2008 denken. Der war damals mit der Parole vom Wandel, an den man glauben könne, durchs Land gezogen. Doch Sanders ist kein Obama, er ist ein 74 Jahre alter Mann mit schlohweißem Haar, der verbeulte Hosen und ausgewaschene Pullis trägt und nicht den geringsten Wert auf Äußerlichkeiten zu legen scheint. Poesie ist ihm fremd, er redet Satz für Satz Prosa. Sanders, schrieb neulich eine Kolumnistin des "New Yorker", erinnere an einen Arzt, der einem schwerkranken Patienten die bittere Wahrheit sagen müsse und ihn zugleich davon überzeuge, dass Heilung noch möglich sei. Kein Smalltalk, nur Tacheles.

Seine Diagnose: eine absurde soziale Ungleichheit, Zustände, in denen der reichsten Familie Amerikas, den Besitzern der Supermarktkette Wal-Mart, mehr gehört als den 40 Prozent im unteren Bereich der Einkommenspyramide. Sein Rezept: höhere Steuern, eine Sonderabgabe für Finanzgeschäfte, dafür kostenlose Universitäten und ein Gesundheitssystem, das ausnahmslos alle versorgt. Vor 25 Jahren, als Sanders für den ländlich-idyllischen Grenzstaat Vermont in den Kongress zu Washington einzog, waren die Themen, denen er sich widmete, exakt dieselben wie heute. Mögen ihn seine Kritiker auch für einen mürrischen Sturkopf halten, es ist genau das, was Lindsey Larson an ihm imponiert.

"Bernie bleibt sich treu, während die anderen ihr Fähnlein nach dem Wind hängen", sagt die 22-jährige Kunststudentin. Hillary Clinton zum Beispiel: eine Kehrtwende nach der anderen, "tut mir leid, sie kann einfach nicht Kurs halten". Persephone Bennett (20) fühlt sich bevormundet wie von einer Nanny, wenn sie aus dem Munde der Ex-Außenministerin Madeleine Albrights den Satz hört, dass es "für Frauen, die anderen Frauen nicht helfen, einen speziellen Platz in der Hölle gibt". Es klingt, als stünde sie in der Pflicht, der womöglich ersten Präsidentin in der Geschichte der USA den Weg ins Weiße Haus zu ebnen? "Sorry, ich wähle nicht automatisch eine Frau, nur weil ich selber eine bin. Das wäre sexistisch."

In New Hampshire, wo die Wähler am Dienstag nach dem Start in Iowa ein zweites Mal über die Präsidentschaftsbewerber abstimmen, hat Sanders gute Chancen, Clinton zu besiegen. Danach dürften die Mühen der Ebene folgen. Auf den nächsten Etappen führt das Primary-Rennen nach South Carolina und Nevada, in Staaten, in denen Afroamerikaner beziehungsweise Latinos eine zentrale Rolle spielen — beides Gruppen, die mit dem Veteranen aus Vermont eher fremdeln. Gleichwohl ist frappierend, welche Sympathien der Älteste des Feldes gerade bei den jüngsten Wählern genießt. Unter den Demokraten New Hampshires wollen ihm, so hat es die University of Massachusetts herausgefunden, 87 Prozent der 18- bis 29-Jährigen den Vorzug vor Clinton geben. Auch das weckt Erinnerungen an 2008, als sich die Favoritin Clinton mit dem Senkrechtstarter Obama duellierte.

Dass Lindsey Larson den alten Mann unterstützt, hat mit konkreten Hoffnungen zu tun. Ein Semester lang hat sie Design studiert, an einem renommierten College in Minneapolis, das ihr wohl die Türen zu einer erfolgreichen Karriere geöffnet hätte, zu gut bezahlten Jobs anstelle der ständigen Praktika, mit denen sich ihre Generation durchschlagen muss. Aus einfachen Verhältnissen stammend, musste sie einen Kredit aufnehmen, um die Studiengebühren bezahlen zu können. Die 15.000 Dollar reichten nur für ein Semester, ein Stipendium bekam sie nicht, die Aussicht auf noch höhere Schuldenberge machte ihr Angst. Notgedrungen wechselte sie an ein Community College, wo das Studium nur zwei Jahre dauert und subventioniert wird. Nur ist ihr Traum vom Aufstieg in die erste Liga der Grafikdesigner damit wahrscheinlich geplatzt. Also: Alles auf die Karte Sanders! Natürlich sei ihr klar, dass von dessen schönen Plänen vieles im zähen Politikbetrieb zerschreddert würde, relativiert sie. Nein, sie erwarte von Bernie keine Wunder. Doch endlich gebe es mal einen, der die Sorgen ihrer Generation in den Vordergrund stelle, sagt Lindsey Larson.

(fh)
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