Interview mit ungarischem Außenminister "Wir glauben nicht an Migration"

Düsseldorf · Der ungarische Außenminister Péter Szijjártó fordert im Interview mit unserer Redaktion einen pragmatischen Umgang mit Russland und wehrt sich gegen Flüchtlingskontingente.

 Der ungarische Außenminister Péter Szijjártó fordert einen pragmatischen Umgang mit Russland.

Der ungarische Außenminister Péter Szijjártó fordert einen pragmatischen Umgang mit Russland.

Foto: ap, VG

Ungarn ist für seine kritische Haltung zum Umgang der EU mit der Flüchtlingskrise bekannt. Zuletzt hat die rechtspopulistische Regierung beim EU-Gipfel laut Diplomaten darauf gedrängt, dass die Visegrad-Gruppe aus Ungarn, Polen, Tschechien und der Slowakei eine eigene Erklärung veröffentlicht — mit der Forderung nach einer Aufhebung der internen Grenzkontrollen. Das Land befürchtet demnach nochmals verschärfte Grenzkontrollen Österreichs. Wir sprachen mit dem 37-jährigen Außenminister Szijjartó.

Vor 60 Jahren kam es in Ungarn zum Aufstand gegen die damaligen sowjetischen Besatzer. Heute dagegen wirkt ihr Land immer sehr bemüht um Verständnis für Moskau — warum?

Péter Szijjarto Um das zu begreifen, genügt doch ein Blick auf die Landkarte. Ungarn liegt in Zentraleuropa, und damit haben wir gar keine andere Wahl — wir müssen mit Russland gut auskommen. Das ist eine pragmatische Haltung. 85 Prozent unseres Gases kommt aus Russland, wir sind in vielerlei Hinsicht abhängig von den Russen. Wir müssen mit ihnen reden, ob uns das nun immer gefällt oder nicht. Die Geschichte hat uns außerdem gelehrt, dass es bei Konflikten zwischen dem westlichen und dem östlichen Teil Europas immer zentraleuropäische Länder wie Ungarn waren, die besonders darunter gelitten haben. Ähnliches gilt übrigens auch im Falle Syriens: Wenn sich Russen und Amerikaner nicht irgendwann auf eine Lösung einigen, werden weitere Flüchtlingstrecks nach Europa aufmachen, und wir werden dann erneut in erster Linie stehen.

Frankreichs Präsident François Hollande hat die russischen Bombardements auf Aleppo als Kriegsverbrechen bezeichnet — zu Recht?

Szijjarto Ich möchte diese Äußerung nicht kommentieren. Ich kann Ihnen nur sagen, dass es in unserem europäischen Interesse ist, dass in Syrien wieder Friede herrscht. Das werden wir aber nach Lage der Dinge ohne Russland nicht erreichen können. Und deswegen sollte man nichts sagen oder unternehmen, was eine solche Einigung erschwert. Davon unberührt ist die Frage der strafrechtlichen Bewertung der Vorgänge in Syrien, aber das ist die Aufgabe des Internationalen Strafgerichtshofs. Wenn Präsident Hollande ihn einschalten will, ist das seine Entscheidung. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass uns das weiterbringt.

Wie bewerten Sie die deutsch-französischen Anstrengungen, in der Ukraine-Krise eine Lösung zu finden?

Szijjarto Wir sind sehr dankbar dafür, insbesondere für die Bemühungen von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die Ukraine ist unser Nachbarland, rund 150.000 Ungarn leben dort. Dieser Konflikt betrifft uns also ganz unmittelbar. Deswegen stehen wir hundertprozentig hinter Merkels Strategie, die Vereinbarungen von Minsk endlich vollständig umzusetzen. Nur so ist eine Befriedung der Ostukraine möglich. Allerdings müssten dafür beide Konfliktparteien deutlich mehr tun als bisher.

Sehen Sie eine Spaltung der EU in der Ukraine-Frage?

Szijjarto Nein, die sehe ich nicht. Es gibt allerdings unterschiedlich Einschätzungen, was die Rolle Russlands angeht. Wir in Ungarn fühlen uns von den Russen nicht unmittelbar bedroht. Ich kann einfach nicht glauben, dass man es Moskau wagen würde, ein Nato-Mitglied anzugreifen. Aber wir respektieren, dass unsere Freunde in Polen oder in den baltischen Staaten das anders sehen und eine russische Aggression befürchten. Deswegen werden wir im kommenden Jahr als Zeichen unserer Bündnissolidarität ein kleines Truppenkontingent von 150 Mann für drei Monate ins Baltikum entsenden.

Eine klare Spaltung der EU gibt in der Flüchtlingsfrage. Ungarn lehnt eine Verteilung von Flüchtlingen nach Quoten strikt ab. Was schlagen Sie stattdessen vor?

Szijjarto Drei Maßnahmen, die alle zusammengehören. Zunächst eine strikte Kontrolle unserer Grenzen. Es ist nicht akzeptabel, dass wie im vergangenen Jahr Hunderttausende illegal unsere Grenzen überschreiten, obwohl sie aus einem sicheren Land kamen wie Kroatien ode Serbien, und in ein Land ihrer Wahl einreisen wollten wie Deutschland.

Sie schließen die Grenzen, weil Flüchtlinge ihre territoriale Integrität verletzen, wie Sie sagen. Sie schieben dann die Verantwortung einfach auf Ihr Nachbarland. Ist das fair?

Szijjarto Wir müssen deshalb zweitens die Länder unterstützen, die an die Krisengebiete angrenzen — Türkei, Libanon, die kurdischen Gebiete und Jordanien. Darin liegt unsere Verantwortung. Wir müssen sie nicht in unser Land lassen, wir müssen aber den Ländern helfen, die die größten Flüchtlingslasten tragen.

Warum können wir ihnen nicht einfach ein paar Flüchtlinge abnehmen — aus humanitären Gründen?

Szijjarto Darum geht es nicht. Wenn die Flüchtlinge nach Europa kommen, werden sie nie wieder in ihr Land zurückkehren. Sie fehlen beim Wiederaufbau. Das ist anders, wenn sie in der Nähe ihrer verlassenen Heimat leben. Dann werden sie auch wieder zurückkehren.

Sollen wir uns also einfach von jeder humanitären Pflicht loskaufen?

Szijjarto Es ist genau anders herum. Und das ist mein dritter Punkt. Die Europäische Union finanziert Milliarden an Entwicklungshilfe in Länder, deren Menschen sich auf die Flucht machen. Die meisten kommen nicht aus Regionen, in denen Krieg und Verfolgung herrschen. Wir müssen deshalb die Vergabe der Mittel an Bedingungen knüpfen. Die Regierungen solcher Länder werden nur dann Hilfen bekommen, wenn sie ihre Menschen an der Flucht hindern. Das gilt auch für Länder, die die Flüchtlinge passieren lassen.

Es ist aber doch ein Armutszeugnis, dass es die europäischen Länder noch nicht einmal schaffen, die 160.000 Flüchtlinge, die in Italien und Griechenland schon vor dem großen Treck gestrandet sind, über die EU-Staaten zu verteilen ...

Szijjarto ... weil ein solches Quotensystem weder rational noch umsetzbar ist.

Das müssen Sie uns erklären.

Szijjarto Nehmen Sie doch einfach einmal an, wir nehmen ein Kontingent auf. Die Menschen wollen nicht zu uns, sie werden sofort das Land verlassen und dorthin gehen, wo sie ursprünglich hinwollten: nach Deutschland, Großbritannien oder Schweden.

Sie können die Flüchtlinge doch registrieren und ihnen eine genau definierte Aufenthaltserlaubnis geben, die Reisen ausschließt.

Szijjarto Und Sie glauben wirklich, dass Schleuser das nicht umgehen können. Die Realität ist leider anders. Deshalb ist ein Quotensystem nicht vernünftig. Übrigens: Es widerspricht auch der jetzigen Regelung von Dublin 2. Danach muss dasjenige Land die Flüchtlinge aufnehmen, registrieren und ihnen womöglich einen Aufenthaltstitel gewähren, das sie als erstes betreten haben. So sind nun mal die europäischen Regeln. Eine Änderung dieser Vorgaben würde Jahre dauern.

Viele Experten sagen, wir brauchen eine europäische Migrationspolitik, um unsere Arbeitsmarkt- und Demografieprobleme zu lösen.

Szijjarto Das war lange Zeit, vor allem vor der großen Flüchtlingskrise, eine eher intellektuelle Debatte.

Jetzt ergibt sich die Chance, ein Teil unserer Probleme mit klaren Einwanderungsregeln zu lösen.

Szijjarto Wir glauben nicht, dass wir diese Probleme mit mehr Einwanderung lösen. Das Problem niedriger Geburtenraten löst Ungarn mit einer besseren Politik für die Familien. Die Arbeitsmärkte in Süd-, Mittel- und Osteuropa sind eher angespannt. Wir haben Arbeitslosenraten von teilweise über 30 Prozent. Das müssen wir vorrangig lösen. Wir haben zum Beispiel die Minderheit der Roma, in der viel mehr Menschen arbeitslos sind als im Landesschnitt. Diese Probleme müssen wir lösen, nicht neue schaffen durch mehr Migranten. Wenn europäische Länder sagen, Migration ist gut, so sagen wir: Sorry, das glauben wir nicht.

Matthias Beermann und Martin Kessler führten das Interview.

(bee / kess)
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