Neuer Streit um Visafreiheit Ein fataler Fehler Erdogans

Ankara · Im Juni sollte sie bereits fallen, die Visapflicht für Türken, die in die EU reisen wollen. Nun verlangt Ankara die Visafreiheit bis Mitte Oktober und droht mit Aufkündigung des Flüchtlingsabkommens. Dies dürfte die Hürden für ein Abkommen jedoch eher wachsen lassen.

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Pro-Erdogan-Demonstration in Köln

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Ursprünglich hatte die Debatte um visafreies Reisen für Türken nach Europa nichts mit Flüchtlingen und Ausnahmezustand zu tun. In Aussicht gestellt hat die EU der Türkei das seit vielen Jahren, und der Visaliberalisierungs-Dialog zwischen Brüssel und Ankara, der die letzten Hindernisse aus dem Weg räumen sollte, startete bereits im Jahr 2013. Tatsächlich gibt es gute Gründe: Die Beziehungen sind sehr eng, nicht zuletzt über Millionen EU-Bürger mit Wurzeln in der Türkei. Zum zweiten sollte sich die privilegierte Partnerschaft irgendwo auch mal außerhalb von Sonntagsreden zeigen. Und schließlich reicht ein Blick auf die Liste jener Länder, deren Bürger kein Visum brauchen, um zu begreifen, warum die Türkei erwarten darf, auch mal dran zu sein. Alle Reisenden aus — zum Beispiel — Chile, Guatemala, Kolumbien, Korea, Malaysia, Moldau, Osttimor, Uruguay und den Vereinigten Arabischen Emiraten erscheinen den deutschen Behörden verlässlicher als jeder türkische Staatsbürger. Nun ja, kann man mal drüber nachdenken.

Kampf gegen Gülen-Bewegung

Im Frühjahr erhöhte Ankara den Druck und erreichte, dass das vorgezogene Fallenlassen der Visapflicht zu den Gegenleistungen der EU im Flüchtlingsabkommen gehört. Allerdings war auch seinerzeit klar, dass das nur funktioniert, wenn die Türkei sämtliche 72 Vorbedingungen erfüllt, über die eben seit Jahren verhandelt wird. Wäre Ankara seinen Verpflichtungen bis Ende Mai nachgekommen, hätte die Kommission das Verfahren zur Visabefreiung auf den Weg gebracht. An diesem Sachstand ist rechtlich keine Veränderung eingetreten. Aber politisch haben wir es mit anderen Voraussetzungen zu tun, und damit muss die Hürde nicht kleiner sondern größer werden.

Denn die Bedingung, den "Terror"-Begriff in der türkischen Gesetzgebund zu schärfen und an die europäischen Standards anzupassen, war der EU besonders wichtig, da sie seinerzeit befürchtete, diese Formulierung könne zur wahllosen Ausschaltung politischer Gegner missbraucht werden. Diese Befürchtung ist nicht theoretisch geblieben. Sie ist schon in den vergangenen Monaten immer mal wieder leidvoll bestätigt worden, etwa im Vorgehen gegen kurdische Abgeordnete oder unbequeme Journalisten. Und sie gehört nun zum Instrumentarium bei den rechtsstaatlich höchst fragwürdigen "Säuberungen".

Dass die Türkei ausgerechnet in ihrer jetzigen Situation die Visaliberalisierung von der EU haben will, klingt eher nach einem der jüngst auftretenden Widersprüche, die den Sarkasmus in die Realität wirbeln. Da nutzen Erdogan-Fans die Demonstrationsfreiheit in Deutschland, um für Erdogans-Kurs der ausgesetzten Meinungs- und Demonstrationsfreiheit in der Türkei zu werben. Und ähnlich krass klingt es, wenn derselbe Erdogan, der gerade selbst 10.000 Pässe von türkischen Wissenschaftlern einsammelt, um ihre Reisefreiheit zu unterbinden, gleichzeitig darauf pocht, dass die EU die Reisefreiheit für Türken verbessert. Die 72 Bedingungen kamen auch mit der Absicht zustande, den Export innertürkischer Probleme in die EU zu verhindern. Erdogan verkennt daher massiv, wie fatal sich sein Versuch, seine Anhänger innerhalb Europas gegen die Gülen-Bewegung zu mobilisieren, auf die Bereitschaft Europas zur Visaliberalisierung auswirkt.

Erdogan glaubt offenbar selbst nicht mehr dran

Zudem sollten die 72 Bedingungen die Türkei in den Augen der EU berechenbar machen. Wenn Erdogan nun Anfang letzten Monats syrischen Flüchtlingen versprach, ihnen den Weg zur türkischen Staatsbürgerschaft zu öffnen, hat er selbst wieder viel für eine zusätzliche Unberechenbarkeit getan.

Offenbar glaubt Erdogan selbst nicht mehr daran, auf absehbare Zeit die Visafreiheit zu bekommen, will sich aber noch einmal als tapferen Kämpfer gegen die EU in Szene setzen. Dass er mit seiner Drohung, das Flüchtlingsabkommen zu kippen, die EU dazu bringt, die Milliarden-Hilfe für die Unterstützung der Flüchtlinge in der Türkei auf Eis zu legen, scheint ihn nicht zu kratzen. Auch nicht, dass er mit seinem Vorgehen die in Sachen Türkei durchaus nicht immer einmütige EU zu einer einheitlichen Abwehrfront formt. Die EU sollte die Konsequenz daraus ziehen und ihm auf diplomatischem Weg klar machen, dass sie derzeit eher daran denken müsste, den 72 Bedingungen im Lichte des türkischen Ausnahmezustandes weitere hinzuzufügen.

(-may)
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