Augenzeugenbericht aus Istanbul "Wir haben alle unser Leben riskiert"

Istanbul · Hasan Kadioglu gehörte zu jenen Menschen, die sich den putschenden Soldaten entgegenstellten. Unserer Redaktion hat der 21-Jährige erzählt, was er in der Nacht auf Samstag in Istanbul erlebte.

Putschversuch in der Türkei: Armee und Bevölkerung liefern sich Kämpfe
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Türkei: Armee und Bevölkerung liefern sich Kämpfe

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Ich bin in Deutschland aufgewachsen und erst vor Kurzem mit meiner Frau nach Istanbul gezogen, weil sie dort Medizin studieren wird. Am Freitagabend war ich mit ihr im Haus meiner Eltern in Carsamba, einem Stadtteil von Istanbul. Da rief mein Vater an und sagte, dass die Armee die Brücken gesperrt hätte und sie putschen würde.

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Ich wollte mir eine Übersicht von der Lage verschaffen und habe den Staatssender TRT eingeschaltet, aber der war außer Betrieb. Die Webseite war auch nicht zu erreichen. Also schaute ich auf der Website der Tageszeitung Cumhuriyet nach. Dann veröffentlichten die Putschisten das erzwungene Statement auf TRT.

"Ich musste raus"

Erst wusste ich nicht, was ich machen sollte. Aber mir war klar, dass, wenn wir untätig herumsitzen, dann Ähnliches wie 2013 in Ägypten passieren würde, als das Militär erfolgreich putschte. Ich musste raus. Gegen eins ging ich los. Meine Frau blieb zuhause, sie ist schwanger. Wir sind dann zu Tausenden auf die Putschisten zugelaufen.

Putschversuch in der Türkei - Parlamentsgebäude teils zerstört
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Foto: dpa, lb

Syrische Flüchtlinge, Iraker, Palästinenser, Kurden und Türken aus allen gesellschaftlichen Schichten, nicht nur Erdogan-Anhänger, auch Oppositionelle. 20 Soldaten hatten vor ihren Panzern Stellung bezogen, die vor einem Gebäude der Stadtverwaltung standen.

Ein Polizeikommissar sagte uns, wir sollen stehenbleiben und nicht weiter gehen, weil das ja noch "unsere Soldaten" sind. Ich hätte auch nie gedacht, dass Soldaten auf die eigene Bevölkerung schießen würde. Als wir noch 300 bis 400 Meter von ihnen entfernt waren, fingen sie an zu schießen. Diejenigen, die "zu nah" kamen, wurden erschossen. Viele Frauen waren ganz vorne mit dabei und fielen den Schüssen zum Opfer. Es ist schlimm, wenn du eine Frau siehst, im Alter deiner Mutter oder deiner Frau, die getroffen wird.

Einige Leute sind auf die Panzer gestiegen

Am Anfang war ich relativ weit vorne. Die ersten Schüsse haben mich nicht allzu sehr erschreckt, weil die Soldaten in die Luft schossen, aber dann schossen sie auf uns. Direkt neben mir bekam eine Frau eine Kugel ins Bein. Ich bin dann in die hinteren Reihen gegangen. Viele Laster, Bagger, Feuerwehrwagen, Busse sind auf die Soldaten zugefahren, als Schutzschild für die Bürgerinnen und Bürger. Die Soldaten schossen auf die Lastwagen. Wir warfen uns immer wieder auf den Boden.

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Foto: Christoph Reichwein

Irgendwann kamen Polizisten, haben sich vor uns gestellt und gegen die Putschisten gekämpft, mit Pistolen gegen Panzer, auch wenn sie mit denen nur am Ende geschossen haben. Mir war klar, dass mein Leben in Gefahr war, aber ich konnte unmöglich fliehen. Das hätte bedeutet aufzugeben. Wir haben alle unser Leben riskiert. Mehrere Stunden ging das so.

Die Verletzten und Toten wurden noch während der Gefechte weggebracht. Es war gar nicht klar, wer tot oder verletzt ist. Die meisten Soldaten wurden erschossen, die übrigen wurden festgenommen. Als die Schüsse aufhörten, haben wir die Polizisten verarztet. Einige Leute sind auf die Panzer gestiegen und haben gesungen, aber den meisten war nicht zum Feiern zumute.

"Wir leben und sterben mit euch!"

Um vier habe ich mich mit den Syrern, Palästinensern und Irakern zusammen auf den Weg zu einer Moschee gemacht. Dort haben wir dann nach der Gebetswaschung mit kaltem Wasser unser Morgengebet verrichtet. Ich fragte sie, warum sie ihr Leben riskieren. "Ihr seid unsere Geschwister! Wir lieben dieses Land und die Leute! Wir leben und sterben mit euch!", haben sie gesagt. Die Flüchtlinge haben den Polizisten an der vordersten Front, die unter Beschuss war, Wasser gebracht.

Um fünf Uhr war ich zuhause, habe mich umgezogen und meine Frau zum Gebet geweckt. Dann sind wir schlafen gegangen.

Es war die richtige Entscheidung, dorthin zu gehen. Ich würde es wieder tun. Es geht um unser Land. Um die Gemeinschaft der Menschen, die eben nur durch solchen Mut aufrechterhalten werden kann.

Protokoll: Sebastian Dalkowski

Hasan Kadioglu (21) wuchs im bayerischen Ansbach auf und studierte in Mannheim Politikwissenschaften. Er hat einen deutschen und einen türkischen Pass.

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