Irak Nach dem IS-Terror ist vor dem Streit ums Öl

Kirkuk · Der Siegeszug der Terroristen überdeckte im Irak viele Probleme. Die paradoxe Ruhe ist vorbei.

 Zivilisten, darunter ein Junge mit weißer Fahne, fliehen vor den Kämpfen im Nordirak. Das Bild entstand Ende Oktober in der Nähe der Stadt Khorsabad, etwa 20 Kilometer nördlich der umkämpften Metropole Mossul.

Zivilisten, darunter ein Junge mit weißer Fahne, fliehen vor den Kämpfen im Nordirak. Das Bild entstand Ende Oktober in der Nähe der Stadt Khorsabad, etwa 20 Kilometer nördlich der umkämpften Metropole Mossul.

Foto: dpa

Hassan hat es geahnt. "Wenn Daesch in Bedrängnis gerät, schlagen die um sich", hat der Mann aus Kirkuk vor gut zwei Wochen im Kaffeehaus "Today" gesagt, als die Militäroffensive zur Rückeroberung Mossuls begann. "Daesch", das ist das arabische Kurzwort für den IS, der Mossul besetzt hält. "Dann haben wir hier auch keine Ruhe mehr", fügte Hassan hinzu. Der Jurist hatte gerade sein Staatsexamen an der Universität Kirkuk bestanden und feierte mit einigen Freunden.

Nur vier Tage später tauchten Dutzende bewaffnete Islamisten in Kirkuk auf, mit Granaten und Gewehren. Selbstmordanschläge wurden verübt, ein Kraftwerk wurde angegriffen. Viele Menschen starben. Das "Today" blieb zwar verschont, aber die Kämpfe fanden auch vor seiner Tür statt. Der IS hat sich zu den Attacken bekannt.

Inzwischen sind sie abgewehrt; in der knapp eine Million Einwohner zählenden Stadt ist Ruhe eingekehrt. Doch wie lange? Auch in der Provinz Anbar, deren Städte Ramadi und Falludscha im Sommer aus der Hand des IS befreit wurden, gab es nach dem Beginn der Offensive gegen Mossul Übergriffe. Hassan und seine Freunde in Kirkuk fühlen sich in frühere Zeiten zurückversetzt, als die Geschäfte schon um 14 Uhr schließen mussten und die Cafés erst wieder aufmachten, wenn die Lage sich entspannte.

Jahrelang war Kirkuk nach Bagdad die Stadt mit den meisten Terroranschlägen landesweit. Fast täglich explodierten Sprengsätze. Kirkuk ist ein Irak im Kleinen. Hier leben alle Volksgruppen des Landes zusammen: Kurden, Araber und Turkmenen sind in etwa gleich stark, christliche Assyrer und Jesiden in der Minderheit. Kirkuks Ölreichtum weckt Begehrlichkeiten. Entsprechend heftig verlaufen die Auseinandersetzungen. Die kurdische Regionalregierung in Erbil erhebt Ansprüche auf die Verwaltung der Stadt, Bagdad ebenfalls. Und nun gibt noch der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan vor, die Turkmenen in der Stadt schützen zu wollen. Die Türkei hat eine Panzerkolonne an die irakische Grenze verlegt. Auch im umkämpften Mossul leben Turkmenen. Die Beteiligung der Türkei an der Offensive gegen den IS ist ein Streitpunkt zwischen den beiden Ländern.

Seit dem Blitzsieg des IS im Juni 2014 und der Eroberung Mossuls und Tikrits wird Kirkuk von kurdischen Peschmerga-Kämpfern kontrolliert. Denn natürlich hatten die Dschihadisten damals auch die Einnahme der Ölstadt versucht. Doch während die kurdischen Sicherheitskräfte andere Landstriche nahezu kampflos den "Gotteskriegern" überließen, waren sie in Kirkuk zu allem entschlossen. Das "Jerusalem der Kurden" nennt der Volksmund die Stadt und drückt damit ihre enorme Bedeutung aus.

Die Freunde aus dem "Today" waren sich dieser günstigen Lage bewusst. Hassans Freund Omeed ist Turkmene, Hassan selbst Kurde. In der Provinz Kirkuk wurde zwar heftig gekämpft; die Stadt selbst aber blieb stets IS-freie Zone. Um sie besser schützen zu können, ersannen die Verantwortlichen eine mittelalterliche Methode: Der Stadtrat beschloss, einen drei Meter breiten und zwei Meter tiefen Graben um die Stadt auszuheben. Zwar wurde er nie ganz geschlossen und auch nicht mit Wasser gefüllt, doch im Süden und Westen diente er als Schutz gegen Terroristen.

"Ob es der Graben oder die ständig präsenten Peschmerga-Soldaten waren, weiß ich nicht", antwortet Omar, Sohn einer Kurdin und eines Arabers: "Jedenfalls ließen die Anschläge nach, wir fühlten uns viel sicherer." Der 24-Jährige konnte sogar um Mitternacht auf der Straße joggen gehen, was vor dem Siegeszug des IS undenkbar gewesen wäre - ein paradoxer Effekt. "Doch das ist jetzt vorbei", sagt Omar. Nun kochen die alten Konflikte wieder hoch, die von der Präsenz des IS übertüncht worden seien. Die Verschnaufpause ist zu Ende.

Denn der Vormarsch der Anti-IS-Koalition auf Mossul geht weiter; irakische Truppen dringen auf das Stadtgebiet vor. IS-Anführer Abu Bakr al Bagdadi rief gestern seine Anhänger zur Verteidigung der Stadt auf - in seiner ersten öffentlichen Botschaft seit Ende 2015.

Seitdem der IS alle Ölfelder um Kirkuk verloren hat, ist dort der Streit um das schwarze Gold wieder voll entbrannt. Das irakische Ölministerium erwägt jetzt, einen Teil der Fördermenge in eine kurdische Raffinerie bei Suleimanija zu transportieren, einen anderen Teil mit Lkw in den Iran. Ein Teil soll auch über die Pipeline von Erbil durch die Türkei fließen und im türkischen Ölhafen Ceyhan verschifft werden. Ob das die Lösung für den seit Jahren schwelenden Streit ist, bleibt dahingestellt. Vergangene Woche wurde ein hoher Mitarbeiter der staatlichen Ölgesellschaft mitten im Zentrum Kirkuks erschossen.

Hassan ist daher skeptisch: "Das Ende des Kalifats bedeutet lange nicht das Ende des Streits um Kirkuk." Er befürchtet, dass die Zeit nach der Schreckensherrschaft der Dschihadisten verheerender wird als die zwei Jahre, als der IS der gemeinsame Feind der Iraker war.

(RP)
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