70 Jahre Unabhängigkeit Indiens Weg in den Nationalismus

Neu-Delhi · Indien war lange stolz auf seine religiöse Toleranz, mit der sich das Land von seinem Erzrivalen Pakistan absetzte. Doch nun, 70 Jahre nach der Trennung, mehrt sich die Gewalt gegen Minderheiten.

 Ein muslimisches Kind küsst bei den Feiern zum Unabhängigkeitstag Indiens eine Flagge.

Ein muslimisches Kind küsst bei den Feiern zum Unabhängigkeitstag Indiens eine Flagge.

Foto: dpa, zeus cul

"Ich sollte mich indischer kleiden", sagt Seema leicht beschämt. Vor Kurzem hat die 26-Jährige ein Seminar der hindu-nationalistischen Bewegung Rashtriya Swayamsewak Sangh (RSS) besucht, seither haben sich ihre Ansichten radikal verändert. "Wenn Frauen Jeans anziehen, werden sie eher vergewaltigt", erklärt Seema und entschuldigt sich gleichzeitig für ihre schwarze, enge Hose. "Das ist Mode, aber ich sollte immer Shalwar-Kameez (traditionelle Kleidung) tragen". Seema, geboren in eine Mittelklassefamilie in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi, ist eigentlich Christin. Doch inzwischen fühlt sie sich im hinduistischen Glauben besser aufgehoben. "Hindus sind eine Einheit", sagt sie in einem Gespräch mit dem "Indian Express".

Lange hatten es Indiens Hindunationalisten schwer, größere Teile der Bevölkerung zu erreichen. Mit ihrer extremen Ideologie und ihren verqueren Ansichten wurden sie von der Ober- und Mittelschicht des Landes oft nur müde belächelt. Dass ausgerechnet ein RSS-Mitglied Indiens Unabhängigkeitskämpfer und Idol Mahatma Gandhi 1948 ermordet hatte, lastete lange wie ein hässlicher Schandfleck auf der Organisation, deren Gründer sich an der nationalsozialistischen Hitlerjugend orientierten.

Doch seit Indiens Premierminister Narendra Modi an der Macht ist, ist diese Weltanschauung in neuen Kreisen hoffähig geworden. Modi, ein bekennender Hindu, der sich vegetarisch ernährt und an religiösen Feiertagen fastet, ist seit seiner Jugend RSS-Mitglied. Mit klugem politischen Kalkül weitet der Politiker seine Basis aus und bereitet einem hinduistischen Indien den Weg.

Das neue Klima der Intoleranz

Indien war lange stolz auf seine religiöse Toleranz, mit der sich das Land von seinem Erzrivalen Pakistan absetzte. Doch nun beginnen Kritiker, Parallelen zur Entwicklung des Nachbarlandes zu ziehen: Angriffe auf Oppositionelle, Journalisten, Schriftsteller und Künstler, Schikanen gegen internationale Hilfsorganisationen und Mob-Gewalt gegen religiöse Minderheiten sind nun auch in Indien an der Tagesordnung.

Führende Politiker von Modis Regierungspartei provozieren gezielt alle Nicht-Hinduisten: Der Regierungschef des Bundesstaates Uttar Pradesh, Yogi Adityanath, erklärte kürzlich, das Taj Mahal, ein Meisterwerk islamischer Kunst aus dem 17. Jahrhundert, repräsentierte nicht die indische Kultur. In Uttar Pradesh, wo jeder fünfte Einwohner Muslim ist, wiegt so ein Ausspruch doppelt schwer.

Im Jahr 1947 hatten sich hier Millionen Muslime dazu entschieden, nicht in die neu gegründete islamische Republik Pakistan auszuwandern, und stattdessen Indiens Versprechen eines pluralistischen und säkularen Staates ernst genommen. Etwa 80 Prozent der indischen Bevölkerung sind Hindus, Muslime stellen mit etwa 170 Millionen die zweitgrößte Religionsgruppe.

In dem neuen Klima der Intoleranz wittern politische Extremisten Morgenluft: Im Juli war ein 15-jähriger muslimischer Junge in einem Zug in Nordindien gelyncht worden, nachdem ein Streit um einen Sitzplatz ausgebrochen war. Das Opfer war als "Rindfleischesser" beschimpft worden. Selbst ernannte "Kuhschützer" terrorisieren auf dem Land Muslime und andere Minderheiten, weil sie angeblich Fleisch von Kühen essen, die für Hindus heilig sind. Eine Atmosphäre von Angst und Paranoia macht sich breit. Nicht nur Muslime zeigen sich besorgt: Kürzlich warnte die christliche Gemeinschaft, die etwa zwei Prozent der Bevölkerung ausmacht: "Wenn der Rashtriya Swayamsewak Sangh (RSS) seinen Willen bekommt, wird Indien bald unter einer einheitlichen Religion, Kultur und Sprache vereint sein".

(RP)
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