Serie "Europa" Gefahr aus Brüssel

Düsseldorf (RP). Der frühere Bundespräsident Roman Herzog fürchtet den Machtverfall des Deutschen Bundestages, der Brüsseler Entscheidungen in nationales Recht umsetzen muss. Um eine weitere Macht-Zentralisierung zu stoppen, wird ein Katalog mit EU-Zuständigkeiten gefordert.

Als vor 50 Jahren am 25.März 1957 in der italienischen Hauptstadt die Römischen Verträge feierlich unterzeichnet wurden, schlug Europa ein neues Kapitel seiner Geschichte auf: Es begann die ungeahnte Erfolgschronik der europäischen Einigung in Frieden und Freiheit. Was mit sechs Staaten damals als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) anfing, umfasst heute in der Europäischen Union (EU) 27 Länder mit einem Binnenmarkt für seine 493 Millionen Einwohner. Die Sogwirkung hält an: Weitere Staaten wie die Türkei oder die Länder Ex-Jugoslawiens wollen der EU beitreten.

Der frühere Bundespräsident Roman Herzog und der Direktor des Centrums für Europäische Politik, Lüder Gerken, schlagen vernehmlich Alarm. Sie sehen durch die politische Entwicklung Europas die parlamentarische Demokratie in Deutschland in Gefahr. Sie fürchten den Machtverfall des Deutschen Bundestages, der weitgehend zur Abnickstation Brüsseler Entscheidungen geworden ist. Nach Angaben des Bundesjustizministeriums in Berlin wurden von 1998 bis 2004 bereits 84 Prozent unserer Gesetze in Brüssel beschlossen und nur 16 Prozent vom Bundestag in Berlin. Dazu gehören die kompletten Binnenmarktgesetze oder das Diskriminierungsrecht: Wie andere Brüsseler Gesetze auch, haben sie die deutsche Gesellschaft tief verändert.

Das Autorenteam sieht die EU heute vor einer entscheidenden Weichenstellung. Es geht darum, wie das gemeinsame Integrationsvorhaben Europa weiterentwickelt werden soll, was europäische Institutionen dürfen, was den nationalen Parlamenten am Ende als Aufgaben bleibt.

Der Verfassungsvertrag für die EU war in Frankreich und den Niederlanden 2005 bei den Bürgern durchgefallen. Unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft will nun Bundeskanzlerin Angela Merkel dem Werk neuen Atem einhauchen. Sie versuchte auf dem EU-Gipfel vor vier Tagen in Brüssel, die EU-Partner auf ihren Plan einzuschwören. Doch viele sind skeptisch, nicht minder die Bürger.

Europas Integrationsprozess nach innen ist für sie nicht mehr zu durchschauen. Nach außen ängstigt sie ein grenzenloser Erweiterungsaktionismus. Die Schlussfolgerung der beiden EU-Analysten mündet in der Forderung nach einer breiten Diskussion der Frage, ob der vorliegende Verfassungsvertrag wirklich den 27 EU-Staaten zum Besten gereicht. Sie verlangen ein Ende der Schönwetter-Reden über Europa und eine klare Benennung von Risiken.

Nach Auffassung des Verfassungsrechtlers und früheren Bundespräsidenten hat der Verfassungsentwurf entscheidende Mängel. Zum einen bereitet ihm die wachsende und sachlich nicht begründbare Zentralisierung der Politik auf EU-Ebene Sorge. Zum weiteren rügen die beiden Autoren die kaum zu durchschauende und undemokratische Weise, in der Entscheidungen in der EU getroffen werden.

Die Verlagerung politischer Entscheidungen nach Brüssel erhöht zwangsläufig die Machtfülle und stärkt die Rolle des Ministerrates. Der setzt sich aus den Regierungsmitgliedern der 27 EU-Staaten zusammen. Der Ministerrat muss jedes EU-Gesetz billigen. Das ist problematisch, denn in ihren Heimatländern sind die Minister Teil der Exekutive (ausführende Macht). Im EU-Ministerrat beschließen sie aber als Gesetzgeber europäisches Recht.

Auf Deutschland bezogen bedeutet das, dass die Gewaltenteilung als ein demokratisches Grundprinzip unseres Grundgesetzes faktisch aufgehoben ist. "Es stellt sich daher die Frage, ob man die Bundesrepublik Deutschland überhaupt noch uneingeschränkt als eine parlamentarische Demokratie bezeichnen kann."

Kritikwürdig sind nach dem Herzog-Papier übereifrige EU-Politiker und Beamte, die sich vor allem um die Stärkung ihres eigenen Fachbereichs kümmern. Dabei werde auch nicht weiter gefragt, ob die Europäische Union auf diesem Gebiet überhaupt gesetzgeberisch aktiv werden kann und soll.

Beim "Spiel über Bande" regten Fachminister zum Beispiel auf der EU-Ebene Gesetzesvorhaben an, die sie in ihrem Herkunftsland nicht durchsetzen könnten. Im Ministerrat stimmten sie dann selbst über das von ihnen initiierte Vorhaben mit ab. Das auf diese Weise umgangene nationale Parlament sei an den Ministerrat gebunden und müsse dessen Beschlüsse umsetzen, so die Autoren.

Außerdem sei in Brüssel die Tendenz zu beobachten, dass der Ministerrat unterschiedliche Gesetzesvorhaben bündele, die jedes für sich keine Mehrheit gefunden hätten. Diese Bündelung erhöhe die Gesetzesflut.

Um weitere Zentralisierungen zu stoppen und den Brüsseler Machtzuwachs zu begrenzen, fordern die beiden Kritiker einen abschließenden Katalog der Zuständigkeiten der Europäischen Union. Bisher ist er in der Verfassung nicht vorgesehen. Außerdem muss ihrer Meinung nach ein "Diskontinuitätsprinzip" in die Verfassung geschrieben werden. Es besagt, Gesetze, die nicht innerhalb der Legislaturperiode verabschiedet werden, verfallen automatisch.

Kritisiert wird, dass die Verfassung den Mitgliedstaaten nicht das Recht einräume, über den Europäischen Rat der EU Zuständigkeiten über Politikbereiche wieder zu entziehen und sie auf die nationale Ebene zurückzuverlagern. Der schleichenden Macht-Zentralisierung nach Brüssel, die durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) noch gefördert werde, könne nur durch einen eigenständigen Gerichtshof für Kompetenzfragen gestoppt werden. Er ist bisher in der EU-Verfassung nicht vorgesehen.

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