EU-Beitrittsgespräche mit Türkei Türkische Gemeinde kritisiert neue Haltung der Bundesregierung

Berlin · Bundesaußenminister Sigmar Gabriel hat sich in der Türkei-Frage hinter SPD-Parteichef Martin Schulz gestellt. Im Oktober will die Bundesregierung beim Europäischen Rat über ein Ende der EU-Beitrittsverhandlungen reden. Die Türkische Gemeinde in Deutschland kritisiert die Pläne scharf.

 Deutsche und türkische Flaggen auf einem Messestand (Symbolbild).

Deutsche und türkische Flaggen auf einem Messestand (Symbolbild).

Foto: dpa

Beim nächsten EU-Gipfel am 19. und 20. Oktober will die Bundesregierung den Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei thematisieren. Regierungssprecher Steffen Seibert verwies am Montag darauf, dass die Beitrittsverhandlungen derzeit ohnehin ruhten. Im Oktober werde man beraten, ob man sie auch beenden sollte.

Im TV-Duell am Sonntagabend hatte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz - für Kanzlerin Angela Merkel überraschend - einen Abbruch der Verhandlungen gefordert. Bis dahin war es Linie der SPD, an den Beitrittsgesprächen festzuhalten, auch wenn sie aktuell auf Eis liegen. So steht es auch im SPD-Wahlprogramm. Die Beitrittsverhandlungen seien "das einzige kontinuierliche Gesprächsformat der Europäischen Union mit der Türkei". Eine Isolierung der Türkei sei nicht im Interesse Europas. Die Worte im Wahlprogramm gelten offensichtlich nicht mehr. Auch ein Sprecher von Außenminister Gabriel (SPD) erklärte am Montag: "Der Außenminister teilt die Position von Herrn Schulz."

Knapp zehn Minuten diskutierten Merkel und Schulz im TV-Duell über das Thema Türkei. Merkel hatte zunächst davor gewarnt, sich im Wahlkampf mit Härte gegenüber der Türkei übertreffen zu wollen. Am Ende aber signalisierte auch sie, in Brüssel den Abbruch der Verhandlungen thematisieren zu wollen. Sie verwies zugleich darauf, dass dies nur einstimmig in der EU ginge.

Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu, kritisierte die neue Haltung von Union und SPD: "Die Pläne der Bundesregierung, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abzubrechen, sind ein Riesenrückschritt", sagte Sofuoglu unserer Redaktion. "Das stärkt in Deutschland den Rechten und in der Türkei Erdogan den Rücken." Das Signal, dass die Türkei nicht zu Europa gehöre, sei falsch und schwäche die demokratischen Kräfte in der Türkei, die dort versuchten, die Demokratie zurückzugewinnen.

Die Frage ob die Beitrittsverhandlungen auf Eis gelegt bleiben oder abgebrochen werden, ist nicht nur eine Frage des politischen Signals. Es geht auch um viel Geld. Zwischen 2014 und 2020 sind 4,45 Milliarden Euro an EU-Beitrittshilfen für die Türkei vorgesehen - unter anderem für eine Stärkung der Demokratie. Davon ist bislang erst ein kleiner Teil geflossen. Mit dem Abbruch der Verhandlungen würde die EU auch nicht mehr zahlen.

Sofuoglu allerdings mahnt: "Union und SPD tun im Bundestagswahlkampf so, als ob die Türkei nur aus Erdogan und seinen Anhängern besteht." Dabei sei die Mehrheit in der Türkei demokratisch gesonnen. "Die deutsche Regierung muss auch bedenken, dass es eine Zeit nach Erdogan geben wird."

Aus Ankara kam am Montag scharfe Kritik am neuen Kurs der Bundesregierung. "Sie bauen eine Berliner Mauer mit den Steinen des Populismus", sagte der türkische Minister für die Beziehungen zur Europäischen Union, Ömer Çelik.

Die Äußerungen von Merkel und Schulz im TV-Duell haben die ohnehin starken Spannungen zwischen Berlin und Ankara noch einmal erhöht. Zentraler Streitpunkt sind aktuell insgesamt elf deutsche Häftlinge, die als politische Gefangene gelten. Darunter der Journalist Deniz Yücel und der Menschenrechtler Peter Steudtner.

Von dem deutsch-türkischen Ehepaar, das Ende vergangener Woche in der Türkei festgenommen worden war, ist die Frau wieder entlassen worden. Offenbar warfen die türkischen Behörden ihr und ihrem Mann Verbindungen zur Gülen-Bewegung vor, die die türkische Regierung für den Putschversuch vor etwa einem Jahr als Drahtzieher verantwortlich macht. Der Mann wird weiter festgehalten.

Immer wieder wurde darüber spekuliert, ob Erdogan die inhaftierten Deutschen als eine Art politische Geiseln sieht. Die Türkei warf der Bundesregierung mehrfach vor, PKK-Terroristen und Gülen-Aktivisten Unterschlupf zu gewähren. Ob Erdogan eine Art Gefangenenaustausch mit Deutschland vorschwebt, ist unklar.

Sollte es tatsächlich zum Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei kommen, ginge eine mehr als 50-jährige Ära zu Ende. 1964 wurde das erste Assoziierungsabkommen zwischen der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei geschlossen.

(qua)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort