Islamismus Die Wut der Ausgegrenzten

Düsseldorf · Die Islamismusdebatten nach den Anschlägen in Paris und Brüssel haben den Terror religiös und ethnisch zu erklären versucht. Doch das hat andere Fragen überlagert, etwa die nach den sozialen Ursachen.

 2005 kam es in Pariser Vororten wie Clichy zu sozialen Unruhen. Demonstranten lieferten sich damals über Wochen immer wieder Straßenschlachten mit der Polizei.

2005 kam es in Pariser Vororten wie Clichy zu sozialen Unruhen. Demonstranten lieferten sich damals über Wochen immer wieder Straßenschlachten mit der Polizei.

Foto: AP

Vielleicht ist es wieder an der Zeit, die soziale Frage zu stellen. Vielleicht muss man bedenken, welche neuen Formen von Ausgrenzung die ökonomischen Umwälzungen in der globalisierten Welt hervorgerufen haben, wie sie die Ungleichheit verstärkt, die Städte verändert, die Ausgeschlossenheit ganzer Bevölkerungsgruppen zementiert haben. Vielleicht kann man die Attentate von Brüssel und Paris dann besser einordnen. Das Verstehenwollen ist ja ein Weg, mit der Bestürzung, der Ohnmacht und Wut umzugehen, die einen überfällt, je tiefer man sich mit den Terrorakten befasst. Und von den Opfern liest. Ihren Lebenswegen, kleinen Marotten, Zukunftsplänen - all dem, was Menschen ausmacht, die nun nicht mehr sind. Und deren Tod die Gegenwart anklagt.

Dieses Begreifenwollen hat in den vergangenen Wochen viele Debatten über das Gewaltpotenzial von Religion und die Gewaltbereitschaft der dritten Einwanderergeneration in Frankreich, Belgien, auch hierzulande entfacht. Diese Analysen sind wichtig, denn sie fordern heraus, sich über das Miteinander in der multikulturellen Gesellschaft zu verständigen, die längst unsere Wirklichkeit geworden ist. Ob das dem Einzelnen gefällt oder nicht.

Der Terror hat nicht nur religiöse und ethnische, sondern auch soziale Ursachen

Doch mit den Islamismus- und Einwandererdebatten wurde der Terror vor allem religiös und ethnisch verankert. Das hat ein neues Gewaltphänomen scheinbar greifbarer gemacht, doch es verleitet, die sozialen Ursachen des Terrors zu verdrängen und die Verantwortlichen außerhalb Europas zu suchen. Dabei gilt: Die Familien der Attentäter mögen aus anderen kulturellen Räumen eingewandert sein. Sie selbst mögen in Syrien gekämpft und hasserfüllt zurückgekehrt sein.

Trotzdem ist der neue Terror nicht von außen nach Europa getragen worden. Es waren in Europa sozialisierte Männer, die sich radikalisieren ließen und ihre Landsleute ermordeten. Franzosen sprengten sich in Paris in die Luft und rissen andere in den Tod. Belgier in Brüssel.

Die in Paris lebende deutsche Schriftstellerin Gila Lustiger nimmt diesen Befund in ihrem neuen Buch "Erschütterung" zum Anlass, an 2005 zu erinnern. An die Aufstände von Jugendlichen in den Pariser Vororten, die sich schnell in 300 Viertel ausbreiteten und bei denen Jugendbanden 10.000 Autos anzündeten, dazu Schulen, Kindergärten, Bibliotheken. Schon damals ist die Mehrheitsgesellschaft der Wut einer prekarisierten Minderheit begegnet, die vom Staat nichts mehr erwartet.

Doch damals entlud sich der Frust über Ausgrenzung, alltäglichen Rassismus, nicht eingehaltene Integrationsversprechen in Gewalt gegen die eigenen Viertel. Die Jugendlichen zogen ja nicht vor das Parlament oder auf die Pariser Prachtstraßen, um die Karossen des Establishments anzuzünden. Sie zerstörten die Einrichtungen, die der Staat in ihre Viertel gesetzt hatte. Sie wüteten gegen all das Wohlgemeinte, das ihre Situation doch nicht verbessert hatte. Sie zerstörten die Gesten des Sozialstaats, die sie als Demütigung empfanden. Sie bekamen einfach keine gute Arbeit mit ihren ausländisch klingenden Namen, ihren Abschlüssen, mit ihren Adressen aus den Banlieues, ob sie nun Bibliotheken nutzten oder sie anzündeten.

Betroffen schreibt Gila Lustiger, dass die Mehrheitsgesellschaft diese Ausschreitungen bei aller Bestürzung gelassen beobachtete. Weil da keine politischen Forderungen gestellt wurden. Weil es keine Sprecher gab. Weil dieser selbstzerstörerische Frust den Alltag der Bessergestellten nicht betraf.

Sie haben sich an den Verhältnissen gerächt

Mit den Terrorakten in Paris und Brüssel, so könnte man nun schließen, hat die Wut der Gedemütigten einen Gegner gefunden. Die Mehrheit der von Wohlstand und Teilhabe Ausgeschlossenen bleibt noch immer ohnmächtig in ihren Plattenbausiedlungen zurück. Doch Einzelne aus diesem Umfeld haben sich radikalisiert, haben ihren Hass religiös aufgeladen und sind losgezogen in die gentrifizierten Amüsierviertel, zu den Altersgenossen, die es vermeintlich geschafft haben, die einen Job ergattert haben, eine bessere Wohnung, Perspektive für die Zukunft.

Und sie haben sich an den Verhältnissen gerächt, indem sie diese Menschen töteten. Doch auch dieser sozioökonomische Blick auf die jüngsten Terrorakte ist letztlich nur ein Versuch, etwas fassbar zu machen, das uns im Innersten trifft und ängstigt, gerade weil es eigentlich nicht fassbar ist.

"Gewalt lässt sich nie erklären, weil Gewalt der Ausnahmezustand ist", sagt der Erziehungswissenschaftler Martin Bittner von der Europa-Universität Flensburg, der die Jugendaufstände in den Banlieues erforscht hat. Er hält wenig davon, eine Linie zu ziehen von den Randalen in den Pariser Vororten mit ihrer ganz eigenen spontanen Dynamik hin zu den genau geplanten Attentaten ideologisch verblendeter Terroristen.

"Für Paris und Brüssel gibt es erst einmal keine Kategorien"

"Letztlich stigmatisiert das die Bewohner der Banlieues aufs Neue", sagt Bittner. Den Jugendlichen sei es darum gegangen, von der französischen Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden, bei der Mehrheitsgesellschaft Beachtung zu finden, die ihnen die Integration verweigert. Das könne man nun rückblickend analysieren. Die Terroranschläge in Paris und Brüssel dagegen seien neue Gewaltphänomene, für die es erst einmal keine Kategorien gebe. Die müsse sich die Wissenschaft nun erneut erarbeiten. "Bei Terroristen spielt der ganz eigene biografische Weg der Radikalisierung eine große Rolle", sagt Bittner. "Man kann die Attentäter also nicht einfach zu Rächern ihrer sozialen Klasse erklären, zu viele subjektive Faktoren sind genauso wichtig."

Auch Gila Lustiger vertritt keine eindimensionalen Erklärungen für den Dschihadismus in Europa. Ihre Überlegungen zielen darauf, sich von barbarischen Attentaten nicht in Hetze und Polarisierung treiben zu lassen, sondern unermüdlich nach den Ursachen von Fanatismus und Terror zu fragen. Und dabei die soziologische Perspektive nicht zu übergehen, weil sie den Blick auf Strukturen der Ungerechtigkeit und Ausweglosigkeit lenkt, die beschämen müssen.

Terroristen sind keine Aufklärer. Ihre Taten sind blindwütig, ihr Ziel ist einzig die Zerstörung. Aufgeklärte Gesellschaften aber reagieren darauf nicht mit Hass. Sondern indem sie sich ihres Verstandes bedienen. Und versuchen zu begreifen.

(dok)
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