Türkei nach Putschversuch Das Land ist längst gespalten

Düsseldorf · Um Gottes willen - sind alle Verwandten wohlauf? Millionen von Deutsch-Türken sorgen sich nicht nur um ihre Familien, sondern um das ganze Land.

 Ein Jugendlicher fährt mit der historischen Straßenbahn auf der Istanbuler Istiklal-Einkaufsstraße.

Ein Jugendlicher fährt mit der historischen Straßenbahn auf der Istanbuler Istiklal-Einkaufsstraße.

Foto: dpa, sdt ase

Das Handy läuft heiß. Die Cousinen melden sich per Whatsapp, der Onkel sendet eine Menge SMS, Facebook-Nachrichten der Freunde ploppen im Minutentakt auf. "Hier fliegen die Kampfjets tief", schreibt der Cousin aus Istanbul, "aber uns geht es gut. Wir sind zu Hause und gehen nicht raus. Dein Vater versucht, am Abend nach Düsseldorf zurückzufliegen." Er versucht es, denn die Lage in Istanbul ist weiter unübersichtlich. Der Betrieb am Flughafen hat sich noch nicht normalisiert. Während das Auswärtige Amt eindringlich mahnt, in Hotels zu bleiben und öffentliche Plätze zu meiden, erleben Millionen von Deutsch-Türken das Putsch-Wochenende bangend mit: Sind alle Verwandten wohlauf?

Gerade erst haben wir den Anschlag auf dem größten Platz im Stadtteil Sultanahmet verdaut - die Freundinnen hätten leicht unter den Opfern sein können. Genau dort hatten sie nur eine Woche zuvor gestanden und an dem Obelisken hinaufgeschaut. Gerade erst schockierte uns das Attentat auf den Polizeibus vor der Universität Istanbul - die Tochter der befreundeten Familie, die dort studiert, ist zufällig an diesem Morgen anderswo. Gerade erst ist die Angst nach dem Anschlag auf den Atatürk-Flughafen verebbt - die Schwester war entgegen dem ursprünglichen Plan nicht dort, sie hatte umgebucht.

Und nun ein Militärputsch? "Keine Angst", schreibt der Cousin, "es ist Erdogan, der das hier inszeniert." Sofort stehen Verschwörungstheorien im Raum. Das ist kein Wunder: Bisher war es in der Türkei unmöglich, zum Beispiel nach regierungskritischen Demos ins Internet zu gehen, die sozialen Netzwerke fuhren nicht hoch, nach den Gezi-Protesten war Twitter abgeschaltet. Diesmal ist das anders, alle Kanäle sind offen, Präsident Erdogan selbst nutzt sie, um sich ohne Unterlass an die Bevölkerung zu wenden. Und sie dazu aufzurufen hinauszugehen - in die Nacht, in die nicht einschätzbare Gefahr, der mehr als 230 Menschen zum Opfer fallen werden.

Zehntausende seiner Anhänger folgen dem Aufruf. Die anderen bleiben daheim und warten ab. Wieder einmal. Sie fragen sich, was der Lärm, die Schüsse, die lauten Aufrufe zum Gebet von den Minaretten für ihr Land und für ihr eigenes Leben bedeuten: Ist eine demokratisch gesicherte Mehrheit ein Freibrief für die gnadenlose Durchsetzung einer bestimmten politischen Richtung? Muss eine Regierung sich nicht vielmehr um Zusammenhalt bemühen und Interessen gegeneinander abwägen?

Eine beispiellose Verhaftungswelle folgt dem Putschversuch, Militärs und Richter werden festgesetzt. Offensichtlich gelingt es Erdogan, sich und seine Vorstellungen sowie sein Personal durchzusetzen. Sein erklärtes Ziel ist es, bis zum 100. Jahrestag der Republikgründung 2023 aus der ehemals laizistischen Türkei mit einer unabhängigen Wächter-Armee einen islamischen Staat gemacht zu haben. Widerstände sind kaum auszumachen. Eine Opposition, die den Namen verdient, gibt es nicht mehr. Die regierungskritische Presse versucht nur noch zu überleben in einer Flut von Anklagen, die auf Beleidigung des Präsidenten lauten.

Vor einer Woche haben sich 20 Zeitungen, Nachrichtenagenturen und TV-Stationen zusammengeschlossen und eine Kampagne gestartet: Mehrere Tage lang prangte der Slogan "Journalismus ist kein Verbrechen" auf den ersten Seiten der Publikationen, darunter auch der im Ausland angesehenen "Cumhuriyet". Nato und EU mischen sich nicht wirklich ein, die Türkei ist ein wichtiger Partner, ihre Regierung ist gewählt, das Ganze eine innertürkische Angelegenheit.

Doch die türkische Gesellschaft ist längst tief gespalten in diejenigen, die sich von der islamischen Religion bedroht fühlen, und diejenigen, die ihr zu ihrem vermeintlichen Recht verhelfen wollen. "Wir fühlen uns fremd im eigenen Land", sagt die Cousine, die als Professorin Englisch lehrt. "Die Religion und ihre Vorschriften greifen immer stärker in den öffentlichen Raum ein. Früher haben wir vom Ramadan nicht viel gemerkt, heute werden selbst Touristen bedroht, wenn sie öffentlich etwas essen." Wie viele säkulare Türken wird sie Istanbul bald verlassen, sie hat Angst. Ob andere für ihre, die kemalistische Türkei kämpfen? "Ich weiß es nicht", sagt die Cousine, die seit den Gezi-Protesten ernüchtert auf die Lage blickt: "Beide Lager stehen sich jedenfalls unversöhnlich gegenüber." Klar ist, dass die Türkei bei diesem Kampf verliert. Im schlimmsten Fall verliert sie sich.

(RP)
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