Großbritannien Camerons radikale Gesundheitsreform

London (RP). Der Premierminister will das einst revolutionäre britische Gesundheitswesen völlig umkrempeln. Die Ausgaben sollen bis 2015 umgerechnet um 18 Milliarden Euro reduziert werden. Das neue System werde das beste in Europa sein, verspricht Cameron. Die Gewerkschaften protestieren.

David Cameron startete als Hoffnungsträger
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"Sie haben eine Physiotherapie verschrieben bekommen?", fragt die Empfangsdame beim Arzt. "Wir melden uns in zwei Wochen, wenn das Krankenhaus einen Termin für Sie hat. Es könnte aber auch zwei bis drei Monate dauern." Eine typische Erfahrung in Englands staatlichem Gesundheitssystem. Wer mehr als nur eine ärztliche Standardberatung braucht, lässt sich im National Health Service (NHS) auf eine Art Roulette ein.

Ein englischer Patient kann Glück haben oder auch Pech, wenn er sich erst in eine lange Warteschlange für eine Behandlung einreihen muss. Dass alles völlig gratis ist in ihren überfüllten Arztpraxen und Kliniken, reicht vielen Briten aus, um die haarsträubenden Defizite des NHS zu entschuldigen. Doch damit will sich die liberal-konservative Koalition in London nicht zufriedengeben. Sie will die "radikalste NHS-Reform seit Jahrzehnten" durchsetzen. Heute kommt das Gesetz zur zweiten Lesung ins Parlament in London.

Der Unterschied zwischen guter und schlechter Medizin in Großbritannien sei "so groß wie zu viktorianischen Zeiten", kritisierte Regierungschef David Cameron mit einem wenig diplomatischen Vergleich: "Sogar in Polen wird ein Patient die Krankenhaus-Therapie nach einem Herzinfarkt eher überleben als hier." Das Land brauche im 21. Jahrhundert ein neues staatliches Gesundheitssystem, so der Premier. Unabhängige Studien geben ihm Recht: So wurde nachgewiesen, dass die Einwohner in ärmeren Gegenden wie im schottischen Glasgow im Schnitt vier Jahre früher sterben als die im reichen Londoner Stadtteil Chelsea. Das habe auch mit den Mängeln des britischen Gesundheitswesens zu tun, sagen die Experten.

Umbau ist für viele ein Sakrileg

Die Idee eines fundamentalen Umbaus des NHS ist für viele Briten ein Sakrileg. Denn die Inselbewohner empfinden eine große Sympathie für ihr Gesundheitswesen und eine Bewunderung für die Leistung der Nachkriegsregierung von Labour-Chef Clement Attlee, der 1948 mit der Einführung der aus Steuern finanzierten medizinischen Versorgung für alle (auch für legal eingereiste Ausländer) Geschichte geschrieben hat. Auf diese Weise sollte gewährleistet werden, dass jeder Bürger kostenlos behandelt werden kann.

Diese "Volksmedizin" war nicht nur kostenlos, sondern auch gut. So verdankt etwa Ex-Premier Gordon Brown einem jungen NHS-Chirurgen sein Augenlicht: Vor vielen Jahren half Hector Chawla dem späteren Premier nach einem Rugby-Unfall, als das zweite Auge des einseitig erblindeten Brown zu versagen drohte. Auch Cameron pries einmal die Arbeit der staatlich finanzierten Pfleger seines behinderten Sohns Ivan.

Die Briten kennen aber auch eine andere Seite ihres Gesundheitssystems, das bei hohen Unterhaltskosten extrem ineffizient sein kann. In England kursiert ein Witz: "Der zweitgrößte Arbeitgeber der Welt ist der NHS. Der größte ist die chinesische Volksarmee. Aber die bringt im Jahr nicht so viele Menschen um." Das Riesensystem mit 1,4 Millionen Angestellten, das jede Sekunde acht Patienten behandelt, wächst unaufhörlich.

Der kranke Koloss muss kuriert werden, das ist allen Briten klar. Um die explodierenden Kosten zu reduzieren, will die Koalition der NHS auf strenge Diät setzen. Der Staat gibt für die Gesundheit des Königreichs umgerechnet 115 Milliarden Euro pro Jahr aus. Cameron will diese Ausgaben bis 2015 um 18 Milliarden reduzieren. Der erhoffte Spareffekt soll vor allem durch eine Umstrukturierung der Verwaltung erreicht werden. Heute verwalten 151 "Primary Care Trusts" (PCT) 80 Prozent des Budgets aller öffentlichen Krankenhäuser und Arztpraxen. Bis 2013 will die Koalition alle PCT schließen. Auch die zehn "Strategic Health Authorities", die in ihrer jeweiligen Region die Gesundheitsausgaben planen und kontrollieren, sollen aufgelöst werden.

Insgesamt werden dadurch 24.000 Arbeitsplätze abgeschafft. Stattdessen sollen die Allgemeinmediziner direkt aus dem staatlichen Ausgabentopf mit 80 Milliarden Pfund schöpfen. Und sie sollen selbst nach den besten Behandlungsangeboten für ihre Patienten suchen und den jeweiligen Anbieter bezahlen. Das im Parlament eingebrachte Gesetz sieht eine stärkere Konkurrenz von Staats- und Privatmedizin vor. Der neue, flexiblere NHS werde "das beste System Europas" sein, verspricht Cameron.

Doch nicht alle sind davon überzeugt. Die Gewerkschaften gehen gegen die Reform schon auf die Barrikaden, weil sie das Risiko der "schleichenden Privatisierung" der Staatsmedizin sehen. In einem offenen Brief an die Regierung nannten 300 Ärzte die Umstrukturierung "teuer und völlig überflüssig". David Cameron blieb jedoch hart. "Wenn wir nichts tun, endet das in Tränen", sagte der Premier.

(RP)
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