Jugoslawien-Tribunal Bilanz eines Weltgerichts

Den Haag · Zum 1. Januar hat der Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien seine Arbeit eingestellt. Eine Erfolgsgeschichte - trotz Skandalen und Tiefpunkten.

Jugoslawien - Die Bilanz eines Weltgerichts
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Die Augen der Opfer sind leer. Der Maler hat sie weiß gelassen, während er dem restlichen Gesicht mit intensiven Farben Leben eingehaucht hat. "Schön und erschreckend", sagt Serge Brammertz, in dessen Büro die Bilder des sizilianischen Malers Arrigo Musti hängen. Sie zeigen Opfer des Bürgerkriegs in Sierra Leone. Schön und erschreckend - "wie unsere Arbeit hier", ergänzt Brammertz, Chefankläger der Vereinten Nationen (UN) für das ehemalige Jugoslawien.

Nach knapp 25 Jahren hat der in Den Haag ansässige Strafgerichtshof zu Beginn des neuen Jahres offiziell geschlossen. Internationale Richter haben insgesamt 161 Personen wegen Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Von ihnen wurden 90 verurteilt und 19 freigesprochen. Die übrigen Verfahren wurden eingestellt oder an andere Gerichte in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien überwiesen. Das UN-Tribunal war das erste seiner Art seit den Prozessen der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs in Nürnberg und Tokio. Ein Meilenstein der internationalen Rechtsprechung.

Schlimmster Völkermord in Europa seit 1945

Das ist der schöne Teil. Erschreckend waren die menschlichen Abgründe, die sich in 10.800 Prozesstagen und 2,5 Millionen Seiten Akten auftaten. Mehr als 100.000 Menschen verloren während der Jugoslawienkriege ihr Leben. Auf allen Seiten kam es in den damaligen Teilrepubliken zu ethnischen Säuberungen. Das Massaker von Srebrenica im Osten Bosniens (11. Juli 1995 bis 22. Juli 1995) wurde zum schlimmsten Völkermord in Europa seit 1945. Bosnisch-serbische Truppen ermordeten rund 8000 muslimische Männer und Jungen. Zahlreiche Soldaten, Polizisten, Generale und Politiker machten sich in den Kriegsjahren strafbar, weil sie bei Tötungen und Vertreibungen halfen, wegsahen, sie befahlen - oder aktiv begingen.

Im Jahr 1993 waren die Mitglieder des UN-Sicherheitsrats deshalb voll des Lobes über die Gründung des Jugoslawien-Tribunals, wenngleich doch niemand wirklich daran geglaubt hatte, viele der gesuchten Kriegsverbrecher tatsächlich zur Rechenschaft ziehen zu können.

Der Belgier Serge Brammertz übernahm im Januar 2008 den Posten des UN-Chefanklägers von Carla Del Ponte. In der achtjährigen Amtszeit der Schweizerin gab es die meisten Verurteilungen. Doch die Festnahme der beiden berüchtigsten Kriegsverbrecher konnte sie nicht vermelden. Der ehemalige Serbenführer Radovan Karadzic sowie Ex-General Ratko Mladic, der "Schlächter von Srebrenica", entzogen sich lange ihren internationalen Haftbefehlen - auch dank ihrer Tarnung, die sie Teilen der serbischen Bevölkerung und der Regierung zu verdanken hatten.

Siebenmal Höchststrafe

Unter Brammertz revidierte das Tribunal die Zusammenarbeit mit den Behörden im ehemaligen Jugoslawien. Ein halbes Jahr nach seinem Amtsantritt nahmen serbische Soldaten Radovan Karadzic in Belgrad fest, wo er mit stark verändertem Aussehen jahrelang unentdeckt als Heilpraktiker mit dem Namen Dragan David Dabic gelebt hatte. Die Verhaftung gab dem Tribunal noch einen enormen Schub. "Nach dem Motto: Jetzt hat es mit Karadzic geklappt, jetzt kriegen wir noch Ratko Mladic", sagt Brammertz. Im Mai 2011 gelang auch dies.

Karadzic erhielt im März 2016 eine Haftstrafe von 40 Jahren Gefängnis. Mladic wurde Ende des vergangenen Jahres wegen seiner Kriegsverbrechen zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Fotos jubelnder bosnischer Frauen - Mütter, Töchter und Partner der Getöteten - gingen am Tag des Urteils um die Welt. Insgesamt verhängte das Tribunal siebenmal die Höchststrafe.

Doch die Verurteilungen waren nicht die einzigen Meilensteine. Ermittler des Gerichts öffneten Massengräber, führten Exhumierungen durch, sammelten Indizien und zeichneten alle Verhöre sowie viele der Zeugenaussagen auf Video auf. Das aus alldem entstandene Archiv ist beispiellos und damit für die Gründung weiterer Gerichte dieser Art von großem Wert.

Als wegweisend bewerten internationale Juristen auch die Anerkennung der UN, Vergewaltigung als Kriegsverbrechen einzustufen. Die Prozesse des Jugoslawien-Tribunals trugen maßgeblich zu dieser Entscheidung bei.

Kriegsverbrecher als Helden

Das Gericht hatte aber auch seine Schattenseiten. So manches Urteil ist Brammertz in negativer Erinnerung geblieben. Einer der prominentesten Fälle war das Verfahren gegen den kroatischen Ex-General Ante Gotovina, der in erster Instanz einstimmig zu einer Haftstrafe von 24 Jahren verurteilt und dann aber nach seiner Berufung von allen Anklagepunkten freigesprochen wurde. "Bis heute tue ich mich mit der Argumentation der Berufungsrichter schwer", sagt Brammertz.

Als Tiefpunkte gelten der Tod des ehemaligen Präsidenten Restjugoslawiens, Slobodan Milosevic (64), der 2006 noch vor dem Ende seines Prozesses in seiner Zelle an Herzversagen starb, sowie der Suizid des bosnisch-kroatischen Generals Slobodan Praljak (72) Ende November 2017. Praljak vergiftete sich im Gerichtssaal mit Zyankali. Er war zuvor zu 20 Jahren Haft verurteilt worden.

In vielen Fällen kam es zudem zu massiver Zeugenbeeinflussung. Für viele Angehörige sei es sehr schwer gewesen, vor Gericht auszusagen, wenn die Beschuldigten immer noch in wichtigen Positionen waren oder von Menschen in wichtigen Positionen weiterhin verehrt wurden, sagt Brammertz. In den Ländern des ehemaligen Jugoslawien gelten manche der Kriegsverbrecher noch immer als Helden. Das macht eine Versöhnung schwer. "Persönlich bin ich jedoch absolut davon überzeugt", sagt Brammertz, "dass es eine Voraussetzung ist, die Vergangenheit aufzuarbeiten, dass Verantwortliche verurteilt werden, um der Versöhnung überhaupt eine Chance zu geben."

(jaco)
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