US-Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders denkt nicht ans Aufgeben

New York · Der linke Widersacher von Hillary Clinton ist im Kampf um die Präsidentschaftskandidatur vom eigenen Erfolg überrascht.

York Der Weg zu Lisa Flythe führt vorbei an einem Wellblechzaun, einer verbeulten Mülltonne und einer verrosteten Eisentür. Das Gebäude an der 8. Straße in Brooklyn lässt an einen Schuppen denken, der kurz vor dem Abriss steht. In den Jahren der Prohibition wurde hier Alkohol illegal ausgeschenkt, später betrieben Mütter aus der Nachbarschaft einen Windelservice, nun stehen Kartons mit Bernie-Sanders-Plakaten und Bernie-Sanders-Buttons über den Boden verteilt. An einer Wandtafel steht, was "Team Bernie New York" am nötigsten braucht. Es fehlen Fahrradständer, Snacks, Erste-Hilfe-Kästen, Kaffeefilter.

"Wir improvisieren", sagt Flythe, eine Mittfünfzigerin, die einst beim Musiksender MTV angestellt war, sich jahrelang von Kurzzeitjob zu Kurzzeitjob hangelte und nun das New Yorker Hauptquartier der Kampagne von Bernie Sanders leitet. Aber den Leuten sei das egal. Sie erlebe eine Begeisterung, die sogar das Jahr 2008 in den Schatten stelle, das Jahr der Wahl Barack Obamas.

Drei Kilometer entfernt, im Betonambiente der Downtown Brooklyns, haben die Wahlhelfer Hillary Clintons die elfte Etage eines Hochhauses bezogen, dessen Hauptmieter die Banker von Morgan Stanley sind. Wer nicht angemeldet ist, kommt nur bis zum Rezeptionisten, und der Versuch, sich anzumelden, war daran gescheitert, dass oben niemand ans Telefon ging. So spontan und chaotisch es bei den Sanders-Leuten zugeht, so abgeschottet arbeitet der Clinton-Stab. Zwei Kandidatenbüros, zwei Welten, exemplarisch für den Kontrast zwischen den beiden Rivalen.

Der hippe Senator

Sanders trägt zerknitterte Hemden und eine Brille, die aussieht, als habe er das Gestell zum Nulltarif bekommen. Voller Leidenschaft redet er über Armut, soziale Ungleichheit und die Schattenseiten der Globalisierung, ohne dabei in die Gossensprache eines Donald Trump zu verfallen. Bernie, der Champion der kleinen Leute. Das allein aber wird dem Phänomen noch nicht gerecht: Der Senator ist obendrein hip.

Man sieht es schon daran, welch bunte Anhängerschar stundenlang Schlange steht, um ihm im Washington Square Park in Manhattan zuzuhören. Ein paar witzige Typen haben sich aus Jux die wohl altmodischsten Nulltarif-Brillen, die sich irgendwo auftreiben ließen, auf die Nase gesetzt. Das Bild prägen die jungen Kreativen, die gerade in Brooklyn ein vergammeltes Fabrikviertel nach dem anderen zu neuem Leben erwecken. Sanders ist ihr Held, er symbolisiert das, was viele das Brooklyn-Gefühl nennen. Teilen statt Egomanie.

Stimme heiser, Zeigefinger oben

Wohlgemerkt, ein 74 Jahre alter Mann, der sich in grauer Windjacke unter einen angeleuchteten Triumphbogen stellt, einen Koloss zu Ehren George Washingtons. Seine Stimme ist heiser, der Zeigefinger erhoben. "Als wir unsere Kampagne begannen, lagen wir 60 Prozentpunkte hinter Hillary Clinton", ruft Sanders und fährt sich durchs schüttere Haar. "Und in den letzten beiden Wochen gab es zwei Umfragen, die uns vor ihr sehen." Manchmal wirkt es, als könne er es selber nicht fassen. Die Vorwahl in New York dürfte er zwar verlieren. Aber dass er überhaupt so weit gekommen ist, ist Überraschung genug. Normalerweise sind die Kandidatenrennen entschieden, wenn New York an der Reihe ist, schmerzlich für eine Stadt, die sich für den Mittelpunkt des Universums hält. Diesmal ist alles noch offen, und Sanders gibt den verlorenen Sohn, der triumphierend zurückkehrt.

In New York wurde er geboren, draußen in Flatbush, einem Allerweltsviertel in Brooklyn. Genau wie seine Heimatstadt hat auch Sanders ein paar Wendungen genommen. Hippie-Träumen nachgehangen im Wald- und Wiesenidyll Vermonts, Anfang der Siebziger chancenlos kandidiert für die linke Liberty Union Party, aber als er dann 1981 Bürgermeister der hübschen Stadt Burlington wurde, hielt er Skeptikern, die wirtschaftliche Katastrophen auf Burlington zukommen sahen, sarkastisch entgegen, auch er verspüre nicht unbedingt "große sadistische Lust", die Geschäftswelt zu zerstören. 1990 - er war zum ersten Mal ins Repräsentantenhaus gewählt worden - charakterisierte ihn der Almanach des Kongresses als den dritten Sozialisten der US-Geschichte, dem dies gelang.

Sprecher von "Occupy Wall Street"

Als ein Unikum. Im Dezember 2010, nunmehr Senator, redete er acht Stunden und 35 Minuten, ohne Pause zu machen, gegen einen Haushaltskompromiss wetternd, der die Niedrigsteuern der Ära George W. Bush weitgehend fortschrieb. Damit avancierte er zu einem der Sprecher jener Bewegung, die im Jahr darauf unter dem Namen "Occupy Wall Street" für Furore sorgte. Im Sommer 2014 verhandelte er mit dem Republikaner John McCain über ein Gesetz, mit dessen Hilfe das System zur Betreuung kranker Kriegsveteranen reformiert werden sollte. Man habe sich bis aufs Messer gestritten, "aber es war mir eine Ehre, mit ihm zu kämpfen", lobte McCain.

Für Lisa Flythe ist er einer, der durchhält, auch wenn er Gegenwind hat. Obama habe im Grunde die gleichen Hoffnungen geweckt. "Doch kaum saß er im Weißen Haus, muss er sich gedacht haben, okay, ich bin angekommen, jetzt rede ich nur noch mit den Big Boys." Auf Sanders, glaubt Flythe, könne man sich verlassen: "Er wird tun, was er sagt".

(RP)
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