Einsatz im Baltikum So arbeiten deutsche Kampfpiloten an der Nato-Ostgrenze

Ämari · Deutsche Piloten sind nicht nur über Syrien und der Türkei im Einsatz: Eurofighter der Bundeswehr kontrollieren zudem den Luftraum über dem Baltikum. Vom estnischen Ämari steigen sie auf, um russische Militärflugzeuge über der Ostsee zu identifizieren.

Eurofighter beim Start in Ämari: "Man weiß eigentlich nie so richtig, was auf einen zukommt, wenn die Sirene losgeht"

Eurofighter beim Start in Ämari: "Man weiß eigentlich nie so richtig, was auf einen zukommt, wenn die Sirene losgeht"

Foto: dpa, hjb

Die schrille Alarmsirene dröhnt laut und unvermittelt los. In Windeseile streifen sich die beiden wachhabenden Piloten ihren olivfarbenen Fliegeroverall über und schnappen sich ihre Tasche mit dem Pilotenhelm. Schnellen Schrittes eilen die beiden Bundeswehrsoldaten aus ihren Einsatzräumen zum nur wenige Meter entfernten Hangar auf dem Militärflughafen im estnischen Ämari. Dort warten zwei vollgetankte und bewaffnete Eurofighter.

Über eine bereitstehende Treppe stürmen die Piloten in das Cockpit und setzen ihren Helm auf, während die mitgeeilte Wartungs-Crew schnell ihre Checkliste abarbeitet. Jeder Handgriff muss sitzen; rasch werden die beiden Kampfflugzeuge startklar gemacht und die Triebwerke für den Einsatz an der Nato-Ostgrenze gezündet.

Der Auftrag: Der Schutz des Baltikums

Mit ohrenbetäubendem Lärm steigen die Kampfflugzeuge steil in den wintergrauen Himmel auf. Ihr Auftrag: Der Schutz der Nato-Mitglieder Estland, Lettland und Litauen. "Wir sind hier, um die Sicherheit im Luftraum über dem Baltikum zu gewährleisten", sagt Oberstleutnant Gerd Schnell, der das deutsche Einsatzkontingent in Ämari führt.

Vom Ertönen der Sirene bis zum Einfahren der Räder dürfen nicht mehr als 15 Minuten vergehen - das ist Nato-Vorgabe beim Alarm Quick Reaction Alert (QRA). Ausgelöst wird er, wenn sich Flugobjekte unangemeldet und ohne sich zu identifizieren dem estnischen Luftraum nähern - und damit auch der Nato-Grenze. In den vergangenen Monaten haben oft russische Militärflugzeuge im Grenzgebiet den Alarm ausgelöst.

Es steigen immer zwei Maschinen auf

Russische Bomber: Zwischenfälle über Nord- und Ostsee
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Aus Sicherheitsgründen steigen dann zwei Kampfjets der Nato auf - derzeit sind es die deutschen Eurofighter. Bis zum Jahresende hat die deutsche Luftwaffe fünf Maschinen und rund 180 Soldaten auf die 50 Kilometer südwestlich der estnischen Hauptstadt Tallinn gelegene Basis verlegt. Ein weiterer Kampfjet steht als Reserve in Deutschland bereit.

Wer oder was die Piloten oben erwartet, erfahren sie erst in der Luft. "Man weiß eigentlich nie so richtig, was auf einen zukommt, wenn die Sirene losgeht", sagt Pilot Karl B.. "Wir springen in unser Flugzeug und werden dann von der Kontrollstation informiert, was es für eine Maschine sein könnte und wo in welcher Richtung und Höhe sie sich ungefähr befindet."

In einem Tempo knapp unter Schallgeschwindigkeit nehmen die beiden Abfangjäger Kurs in Richtung Ostsee, um in mehreren Tausend Metern Höhe den fremden Flieger zu identifizieren. Aus nächster Nähe stellen die Piloten erst fest, was für Maschinen sie suchen. Die Flugzeuge haben dann Sichtkontakt.

Russische Bomber über Europa
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"Wir setzen uns im Endeffekt in gewissem Sicherheitsabstand einfach daneben", erklärt Pilot Nils M.. Dadurch könne die zivile Flugverkehrskontrolle dann die Position der anderen Maschine orten. Denn bei Nato-Jets ist stets der Transponder eingeschaltet, der die elektronische Kennung? und Flugdaten von Militärmaschinen auch an die zivilen Lotsen übermittelt.

Geführt werden die "Eurofighter" vom Nato-Gefechtsstand für die Luftverteidigung in Uedem am Niederrhein. Dort registriert das Militärbündnis die Flugbewegungen über dem Baltikum und ordnet die auch "Alpha-Scramble" genannten Schutzflüge an.

"Ein Vorfall liegt vor, wenn ein Nicht-Nato-Militärflugzeug über dem Finnischen Meerbusen oder der Ostsee in neutralem Luftraum fliegt - ohne Flugplan, eingeschalteten Transponder oder wechselseitigen Funkkontakt mit der Flugsicherung", erklärt Major Hardi Lämmergas von der estnischen Luftüberwachung.

Bewegen sich die als kleine blinkende Punkte auf seinem Militärradar angezeigten Flugzeuge verdächtig auf die Grenzen des estnischen Luftraums zu, wird deren Route berechnet. Kommen sie zu nah, lässt die Nato vorsorglich ihre Jets aufsteigen. Für die deutschen Piloten heißt es dann: Einsatz.

Bisher 19 Alarmstarts

Seit die Bundeswehr Ende August die Aufgabe übernommen hat, mussten sie 19 Mal zu Alarmstarts ausrücken. Zu brenzligen Situation sei es dabei nicht gekommen - zumeist verhielten sich die russischen Piloten kooperativ. "Es kam oft vor, dass uns zugewunken oder militärisch gegrüßt wurde. Da ist keine hohe Aggressivität festzustellen", sagt der Pilot Karl B..

"Das sind auch nur Piloten wie wir", meint sein Fliegerkamerad Nils M.. "Die freuen sich, einen europäischen Eurofighter zu sehen, ebenso wie es für uns aufregend ist, einem russischen Flugzeug zu begegnen." Am Himmel zu bewundern gibt es ein breites russisches Arsenal: MiG-Kampfjets, Tupolew-Bomber oder auch Antonow-Transportflieger.

Meistens seien es Maschinen, die zwischen St. Petersburg und der russischen Ostsee-Exklave Kaliningrad um das frühere Königsberg unterwegs sind. Wollen sie ihre Stützpunkte auf dem Luftweg erreichen, führt die Route nördlich von Estland durch einen engen Korridor über dem Golf von Finnland. Der internationale Luftraum endet dabei zwölf Meilen vor der Küste.

Dass russische Flugzeuge aggressiv in estnisches Hoheitsgebiet eindringen, komme aber praktisch kaum vor. "Es ist jetzt keine Spannung in der Luft, keine politische Spannung", sagt Pilot Nils M.. Daran habe auch der jüngste Abschuss eines russischen Kampfjets durch die Türkei nichts geändert.

Testen die Russen die Einsatzfähigkeit der Nato?

Doch was bezwecken die Russen mit ihren Flugbewegungen und warum kommt es überhaupt zu Vorfällen am baltischen Himmel? Manchmal mag es ein Versehen sein, dass der Transponder ausgeschaltet bleibt. Vielleicht seien es aber auch Tests, wie reaktionsschnell und einsatzfähig die Nato ist, erklärt Schnell. Die politische Auslegung überlässt er anderen. "Rein aus Zufall passiert sowas nicht", sagt der Offizier.

Verboten sind die Flüge ohne Transponder im internationalen Luftraum nicht. Doch sie gefährden nach Ansicht von Nato und Bundeswehr die zivile Luftfahrt. Da die russischen Piloten keine Signale ausstrahlen und häufig den Funkkontakt vermeiden, bleiben ihre Flugbewegungen der zivilen Luftsicherung verborgen. Deshalb greifen die Nato-Abfangjäger als eine Art Luftpolizei ein.

Nach estnischen Angaben mussten Flugzeuge aus Ämari in diesem Jahr bislang auf mehr als 260 Vorfälle über der Ostsee reagieren. Zweimal sei es dabei zu einer Luftraumverletzung gekommen, sagt Lämmergas. Als die Überwachung durch die Nato vor mehr als einem Jahrzehnt begann, habe es höchstens ein gutes Dutzend Vorfälle im Jahr gegeben.

Doch seitdem hat sich viel verändert. Besonders wegen der Ukraine-Krise hat das sogenannte "Nato Air Policing" eine neue Bedeutung und Brisanz bekommen. Er ist eines der wichtigsten Zeichen der Bündnissolidarität an die baltischen Staaten. Die drei Ex-Sowjetrepubliken sind seit der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim 2014 durch Russland um ihre Sicherheit besorgt.

Selbst schützen kann Estland seinen Luftraum nicht. Gerade einmal zwei Trainingsjets, mehrere Hubschrauber und ein paar alte Transportmaschinen aus Sowjetzeiten stehen auf dem Militärflughafen in Ämari. Für ein eigenes Geschwader zur Luftraumüberwachung fehlen wie in den beiden baltischen Nachbarländern Lettland und Litauen schlicht die Mittel.

"Wir sind das kleinste Nato-Land mit vier Teilstreitkräften", sagt Estlands Armee-Chef Riho Terras. Der nördlichste Baltenstaat hat gerade einmal 1,3 Millionen Einwohner. "Mein Budget ist kleiner als das der Münchner Stadtpolizei. Und München hat keine Kampfflugzeuge", veranschaulicht der Oberbefehlshaber lächelnd die Situation.

Seit dem Nato-Beitritt der baltischen Staaten 2004 sorgen daher die Bündnispartner im regelmäßigen Wechsel für die Überwachung des Luftraums der drei Ostseerepubliken im Nordosten Europas. Die Alarmierung der im Baltikum stationierten Kampfjets ist inzwischen zum Alltag geworden - auch für die Bundeswehr.

Bereits zum achten Mal führt die Luftwaffe den Auftrag aus. Auf die leichte Schulter genommen wird der Einsatz im Ämari trotzdem nicht - im Gegenteil: Erstmals sind die Eurofighter mit voller Bewaffnung in der Luft unterwegs. Zur angehängten Nato-Standardausrüstung zählen eine scharfe Kanone, Infrarot-Kurzstreckenraketen, ein elektronisches Abwehrsystem und radargesteuerte Mittelstreckenraketen.

"Wir müssen uns verteidigen können"

Der Diskussion darüber in der Heimat kann Schnell wenig abgewinnen. "Wenn man Soldaten in den Einsatz schickt, dann sollte man sie zumindest so ausstatten, dass sie sich selbst verteidigen können. Und dann ist es unerlässlich, die Flugzeuge zu bewaffnen", meint der selbst auch regelmäßig im Cockpit sitzende Kontingentführer. "Die russischen Flugzeuge fliegen schließlich auch bewaffnet."

Einsetzen dürften die Piloten ihre Waffen ohnehin nur im äußersten Notfall - bei einem Angriff auf sie selbst. Auch sonst werden jegliche Provokationen bei den Patrouillenflügen unterlassen. So nähern sich die Luftwaffen-Jets bei der Identifizierung seitlich und nahezu auf gleicher Höhe den fremden Fliegern, anstatt überfallartig von hinten oder unten aus dem Nichts aufzutauchen.

"Der Auftrag ist ein Friedensauftrag", betont der Luftwaffengeneral Joachim Wundrak, bei dem als Leiter des Nato-Kommandozentrums in Uedem alle Fäden zur Sicherung des Luftraums zusammenlaufen. Auch der Este Terras spricht von einer Friedensaufgabe.

Noch bis Anfang Januar soll die Luftwaffe im Ämari Flagge zeigen. Dann soll Belgien übernehmen. Bis dahin werden die Eurofighter auch weiter regelmäßig über die Ostsee jagen - wenn nicht zu Kontrolleinsätzen, dann zu "Tango-Scramble" genannten Trainingsflügen. Zweimal täglich steigen Nato-Flieger dafür in den Himmel auf - immer dann, wenn die Sirene schrillt.

Die Namen der Piloten sind geändert, die Angaben zu Alarmstarts sind Stand Ende November, Anzahl an Vorfällen Anfang Dezember

(felt/dpa)
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