Serie von Anschlägen Türkei-Konflikt schwächt Europa

Berlin · Die Türkei wird durch eine Serie von Anschlägen erschüttert. Die Eskalation hat unmittelbare Auswirkungen auf die geplante Reduzierung der Flüchtlingszahlen und kann auch weitere dramatische Folgen für Deutschland haben.

Anschlag in Ankara: Bilder der Explosion des Militär-Konvois
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Februar 2016: Tote und Verletzte bei Anschlag in Ankara

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Foto: dpa, sdt jak

An Europas Südostflanke kehrt keine Ruhe ein - die Serie von Anschlägen mit zahlreichen Toten in der Türkei reißt nicht ab. Bei einer Explosion am Mittwoch waren mindestens 28 Menschen ums Leben gekommen; gestern starben sechs Armeeangehörige bei einem weiteren Attentat. Ankara beschuldigt die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und mit ihr verbündete Milizen der Täterschaft. Die dementieren, sehen sich aber immer härteren militärischen Angriffen durch die türkischen Streitkräfte ausgesetzt. Gestern flog die Luftwaffe Angriffe auf mutmaßliche Stellungen der PKK im Nordirak. Wir beleuchten die wichtigsten Fragen in dieser verworrenen Lage.

Wie gefährlich ist die Eskalation?

Brandgefährlich, denn sie spielt direkt in den Syrien-Krieg hinein. Seit Jahren legt Ankara die Priorität auf Bekämpfung der Kurden, die eigentlich die tapfersten Verbündeten der internationalen Koalition gegen die Terrororganisation Islamischer Staat sind. Je intensiver das türkische Vorgehen gegen die Verbündeten der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK im Irak und in Syrien, desto mehr Freiräume entstehen für die islamistischen Terroristen. Die vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan angekündigte "Vergeltung" ist innerhalb der Türkei und auch in Syrien bereits angelaufen.

Ist die Täterschaft eindeutig?

Westliche Geheimdienste sind von ihren türkischen Partnern über die Identität informiert worden, verfügen selbst aber über keine eigenen Erkenntnisse. Selbstmordanschläge gehörten zuletzt nicht zu den typischen Vorgehensweisen von PKK-Anhängern. Die kurdischen Organisationen wiesen eine Veramtwortung für die Taten zurück. Kurdische Verbände argwöhnen, Ankara konstruiere die Urheberschaft, um einen Vorwand für ein noch härteres Vorgehen im Irak, in Syrien und auch in der Türkei zu haben.

Ist das türkische Vorgehen berechtigt?

Im Kern haben auch die Kurden einen Anlass geliefert, indem sie das Chaos im Irak und in Syrien nutzen, ihre Vision von einem oder mehreren kurdischen Staaten auf irakischem, syrischem und türkischem Territorium zu realisieren. Der vom inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan verkündete Waffenstillstand hatte zu einem Verständigungsprozess geführt, den die regierende "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (AKP) jedoch aufkündigte, als die legale kurdische Partei HDP 2015 der AKP die verfassungsändernde Mehrheit nahm.

Kann der "Krieg" der Türkei gegen die Kurden zum Nato-Bündnisfall führen?

Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, unterstreicht, dass eine Ausdehnung des Konflikts auf EU und Nato ausgeschlossen werden könne. Er kritisiert die dramatische Eskalation, stellt jedoch zugleich klar: "Die Gewaltanwendungen aufseiten der PKK rechtfertigt die übermäßige militärische Antwort der Türkei nicht." Der CDU-Politiker stellt zudem klar: "Die Türkei kann hierfür die Bündnissolidarität der Nato nicht in Anspruch nehmen."

Wie wirken sich die Anschläge auf Angela Merkels Flüchtlingspolitik aus?

Die Kanzlerin hatte bis zu den Anschlägen einen Trumpf auf der Hand: den Zustrom der Flüchtlinge nach Europa durch eine europäisch-türkische Zusammenarbeit reduzieren zu können. Das geplante Treffen der Regierungschefs von Deutschland, Frankreich und Österreich mit der Türkei und Griechenland konnte Anlass zur Hoffnung geben, dass es in den kommenden Wochen zu einem spürbaren Rückgang der Flüchtlingszahlen kommt. Bei dem Treffen sollte es informell auch um Flüchtlingskontingente gehen, die Europa der Türkei abnimmt, wenn diese dabei behilflich ist, die EU-Außengrenzen zu schützen. Die Türken sagten das Treffen unmittelbar nach dem verheerenden Anschlag von Ankara ab. Ein Nachholtermin steht noch nicht fest. Solange die Türkei durch die Beschäftigung mit ihrer eigenen inneren Sicherheit außenpolitisch nicht agieren kann, geht es auch für Merkels Flüchtlingspolitik nicht voran.

Welche Folgen haben die Anschläge für die Stimmung in Deutschland?

Die Anschläge werden als eine weitere Sackgasse wahrgenommen, in die Merkels Flüchtlingspolitik läuft. Für die große Koalition wäre es von entscheidender Bedeutung gewesen, kurz vor den Landtagswahlen am 13. März endlich einen Erfolg bei der Reduzierung der Flüchtlingszahlen vorlegen zu können. Denn diese Wahlen sind inzwischen auch zu einer Abstimmung über die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung geworden.

Können sich türkisch-kurdische Konflikte auch in Deutschland entzünden?

Das ist wiederholt geschehen und führte 1993 nach einer Welle kurdischer Gewalt gegen türkische Einrichtungen auch in Deutschland zum Verbot der PKK. Ihre Fahnen sind bei politischen Demonstrationen weiterhin verboten. Nach Schätzungen der Sicherheitsbehörden leben rund 14.000 PKK-Anhänger in Deutschland. Unter den etwa drei Millionen türkischstämmigen Bürgern und Einwohnern sind rund 500.000 Kurden. Ein türkisch-kurdischer Bürgerkrieg in der Türkei hätte unmittelbare Folgen für Deutschland.

Gibt es Anhaltspunkte für bevorstehende Gewalt in Deutschland?

Dafür gab es bis gestern in Sicherheitskreisen keine Hinweise. Innenausschuss-Vorsitzender Ansgar Heveling (CDU) versicherte: "Unsere Sicherheitsbehörden werden einem Versuch, innertürkische Konflikte in unser Land hineinzutragen, entschieden entgegentreten." Die Verbitterung unter Kurden wächst indes. Ali Ertan Toprak, Vorsitzender der kurdischen Gemeinde in Deutschland: "Wir können uns nicht darauf verlassen, dass die deutsche oder eine andere Regierung aus den EU-Staaten von sich aus die Kurden unterstützt. Wir werden wohl selber handeln müssen."

(may- / qua)
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