Angriffe gegen Terrormiliz IS Das Ende der türkischen Stillhalte-Politik

Ankara · Mit ihrer Stillhalte-Politik kann sich die Türkei keinen Schutz vor Terroranschlägen des "Islamischen Staats" mehr erkaufen. Ab sofort setzt die Regierung deshalb darauf, die Terrormiliz mit militärischen Mitteln zu bekämpfen. Der Schritt könnte zu spät kommen. Eine Analyse.

 Türkische Kampfjets haben Angriffe auf IS- und PKK-Stellungen geflogen.

Türkische Kampfjets haben Angriffe auf IS- und PKK-Stellungen geflogen.

Foto: ap

Fast über Nacht hat sich die Syrien-Politik der Türkei grundlegend gewandelt. Lange sträubte sich Ankara dagegen, aktiv am militärischen Kampf gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) teilzunehmen; in den ersten Jahren des syrischen Bürgerkriegs seit 2011 hatte die türkische Regierung sogar gehofft, Extremistengruppen wie der IS könnten den Sturz des syrischen Staatschefs Baschar al Assad beschleunigen und so türkischen Zielen dienen.

Nun hat eine neue Zeitrechnung begonnen. Türkische Kampfjets greifen Stellungen der Dschihadisten auf der syrischen Seite der Grenze an, während die Regierung den USA nach langem Zögern die Erlaubnis gibt, die türkische Luftwaffenbasis Incirlik für Luftschläge gegen die Extremisten zu nutzen. Weitere Angriffe seien möglich, heißt es in Ankara. Auch eine Intervention mit Bodentruppen gehört zu den Optionen.

Hinter der plötzlichen Wende steckt mehr als Vergeltung für den Bombenanschlag von Suruç und für den Tod eines türkischen Soldaten bei einem Schusswechsel mit dem IS an der Grenze. Das Ende des Abwartens markiert den Kollaps eines unausgesprochenen Nichtangriffspaktes zwischen Ankara und dem IS und den Beginn einer neuen Ära, die den internationalen Kampf gegen den IS entscheiden könnte — für die Türkei aber neue Gefahren bringt.

Zum Ärger ihrer westlichen Verbündeten hatte sich die Türkei als direkte Nachbarin Syriens und des IS-"Kalifats" lange aus dem militärischen Teil der Kampagne gegen die Dschihadisten herausgehalten. Ankara begründete dies unter anderem mit der Befürchtung, ein stärkeres Engagement könnte Vergeltungsschläge der Extremisten auf türkischem Boden auslösen. Diese Logik ist mit dem Anschlag von Suruç Anfang der Woche gescheitert.

Das sind die Verbündeten im Kampf gegen IS
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Der IS hat gezeigt, dass er ungeachtet der Haltung Ankaras auf türkischem Territorium zuschlägt, wenn er es für geboten hält. In Suruç wollten die Extremisten ein blutiges Signal an die Kurden senden, die im Norden Syriens erfolgreich gegen die Dschihadisten kämpfen und die dem IS in Kobane eine schmerzliche Niederlage beigebracht hatten.

Damit ist klar: Mit der Stillhalte-Politik kann sich die Türkei keinen Schutz vor Terroranschlägen erkaufen. Ab sofort setzt die Regierung darauf, den IS mit militärischen Mitteln zu bekämpfen. Die westliche Allianz gegen den IS gewinnt damit einen wichtigen Bundesgenossen. Wie die USA zielt jetzt auch die Türkei auf eine Schwächung des IS. Der Kampf gegen das "Kalifat" wird intensiviert; der Druck auf den IS wird zunehmen.

Isis/IS - Islamischer Staat im Irak und Syrien
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Doch die Erkenntnis, dass Passivität gegenüber dem IS eine schlechte Option ist, hat sich in Ankara sehr spät durchgesetzt, vielleicht zu spät. Die Dschihadisten haben sich in den vergangenen zwei Jahren nicht nur in Syrien und im Irak ausbreiten können. Längst hat der IS die mehr oder weniger offene Grenze genutzt, um auch in der Türkei Schläferzellen zu bilden — mit Massenfestnahmen ist dieses Problem nicht zu lösen.

Die türkische Regierung hat es versäumt, eine konstruktive Position gegenüber den Autonomiebestrebungen der Kurden in Nord-Syrien zu entwickeln. Nach wie vor stellt Ankara den IS und die türkischen sowie syrischen Kurdenrebellen als Terrorgruppen auf eine Stufe. Der innertürkische Kurdenkonflikt verschärft sich wieder, zumal Ankara nicht nur Angriffe gegen IS-Stellungen, sondern auch gegen Lager der kurdischen Arbeiterpartei PKK im Nordirak geflogen ist. Die PKK hat daraufhin ihren Waffenstillstand mit der türkischen Regierung aufgekündigt.

Wegen der Befürchtung, die Kurden könnten in Syrien einen eigenen Staat bilden, gibt es bisher keinen ernsthaften Versuch der Türkei, gemeinsam mit den syrischen Kurden gegen den IS vorzugehen. Diese Fehlkalkulation der türkischen Regierung rächt sich: Inzwischen beginnen kurdische Extremisten in der Türkei mit blutiger Selbstjustiz gegen mutmaßliche IS-Sympathisanten, was die Gefahr einer weiteren Eskalation birgt.

Mit der Neuausrichtung der IS-Politik versucht Ankara nun die Flucht nach vorne. Wenn der "Islamische Staat" in eine Dauer-Defensive gedrängt und nachhaltig geschwächt wird, sinkt die Terrorgefahr im Land, und die türkisch-kurdischen Spannungen können abgebaut werden. Doch die Dschihadisten dürften jetzt erst recht versuchen, den Krieg auf türkisches Gebiet zu tragen. Der Syrien-Konflikt ist in der Türkei angekommen.

(tos)
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