Flüchtlingspolitik Merkels Menetekel heißt Tusk

Meinung | Berlin · In bemerkenswerter Klarheit hat EU-Ratsvorsitzender Donald Tusk die Europäer und insbesondere seine Freundin Angela Merkel zur Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik aufgerufen. Der Kanzlerin laufen Zeit und Verbündete davon.

 Donald Tusk, Präsident des Europäischen Rates.

Donald Tusk, Präsident des Europäischen Rates.

Foto: afp, vel

Angela Merkels Durchsetzungskraft in Europa hängt mit Deutschlands Stärke sowie mit Merkels Standfestigkeit und ihren funktionierenden Netzwerken zusammen. Die Stärke kommt in der Flüchtlingsfrage ins Rutschen, wenn immer mehr Akteure Deutschland für überfordert halten. Und auch die Netzwerke brechen auseinander: Merkels enger politischer Vertrauter Donald Tusk bündelt nun die Kritik an Merkel in bemerkenswerter Klarheit.

"Wir schaffen das", sagt Tusk nicht etwa zu der von Merkel gepflegten Willkommenskultur der offenen Arme. Er dreht den Kernansatz der Kanzlerin um — wendet ihn auf einen Stopp der Flüchtlingsbewegung durch intensive, 18 Monate lange Überprüfungen, die Abschreckungscharakter haben sollen. Und er dreht eine weitere These ins Gegenteil. Es sei gefährlich, die Flüchtlingsbewegung für zu groß zu halten, um sie stoppen zu können. Im Gegenteil: "Diese Flüchtlingsbewegung ist zu groß, um sie nicht zu stoppen."

Tusk wird zum Menetekel für Merkel in einer Situation, in der sie darauf setzt, den Zustrom nach Deutschland auf internationaler und europäischer Ebene in den Griff zu bekommen. Die Vereinbarung, 120.000 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland in anderen Ländern nach einem gerechten Schlüssel unterzubringen, sollte den Anfang für ein neues, großes EU-Verteilsystem darstellen. Daher ist es verheerend, dass davon nach vielen Wochen erst ein Bruchteil verwirklicht wurde, und noch verheerender, dass Länder nun bereits gegen dieses Mini-Programm klagen.

Gleichzeitig läuft der Kanzlerin die Zeit davon. Bei den Beratungen der drei Parteivorsitzenden von CDU, CSU und SPD über ein weiteres Asylpaket hatte sie am 5. November die Idee, den Druck durch Ultimaten zu erhöhen. "Wir erwarten noch in diesem Jahr", lautete ihre Formulierung für die Installation der Hotspots und schnellen wie effektiven europaweiten Verteilung. "Noch in diesem Jahr", formulierten die Drei als Vorsatz für die Beschleunigung der Asylverfahren. Und "noch in diesem Jahr" wollten die Chefs die Voraussetzungen für einen Stopp des Familiennachzuges schaffen. Acht Wochen gaben sich die Verantwortlichen für Deutschlands Flüchtlingspolitik. Jetzt ist die Hälfte davon vorbei, und nur eines ist gelungen: die Klarheit, dass es bis zum Jahresende nicht klappen wird.

Noch trauen 38 Prozent der Deutschen Merkel am ehesten zu, das Flüchtlingsproblem lösen zu können. Nur 21 Prozent setzen eher auf die Seehofer'sche Obergrenzen-Variante. Doch die Stützen, auf denen Merkel ihre Lösungsbemühungen baut, werden brüchiger.

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